Appetitlosigkeit gehört zu den häufigsten Begleitsymptomen schwerer Erkrankungen wie Krebs, HIV/AIDS oder neurodegenerativer Störungen. Besonders in fortgeschrittenen Stadien kann ein Verlust von Körpergewicht – im Sinne einer Kachexie – die Prognose und Lebensqualität erheblich verschlechtern. Andererseits rückt Cannabis in einem ganz anderen Zusammenhang ebenfalls ins Blickfeld: als potenzieller Risikofaktor für Heißhungerattacken, übermäßige Kalorienaufnahme und Adipositas. Die Frage nach dem Einfluss von Cannabinoiden auf das Essverhalten ist daher hochrelevant – sowohl aus therapeutischer als auch aus präventivmedizinischer Perspektive.
Zentral für das Verständnis dieser Wirkung ist das Endocannabinoid-System (ECS), das eine Schlüsselrolle bei der Regulation von Hunger, Sättigung, Energiehaushalt und Nahrungsmotivation spielt. Insbesondere der CB1-Rezeptor im Hypothalamus und limbischen System beeinflusst unser Essverhalten über neurobiologische Signalwege – und wird gezielt durch Substanzen wie THC (Δ9-Tetrahydrocannabinol) aktiviert.
In diesem Beitrag beleuchten wir die verschiedenen Effekte von THC, CBD und synthetischen Cannabinoiden auf Appetit und Gewicht. Wir zeigen auf, in welchen Fällen Cannabis eine wirksame Therapieoption darstellen kann – etwa zur Behandlung der Kachexie – und wo Risiken bestehen, etwa bei bestehenden Essstörungen oder Übergewicht. Der Fokus liegt auf einer differenzierten, evidenzbasierten Darstellung der aktuellen Studienlage.
1. Das Endocannabinoid-System und der Appetit
Das körpereigene Endocannabinoid-System (ECS) steuert nicht nur Schmerz, Stimmung und Immunreaktionen, sondern ist maßgeblich an der Regulation von Hunger, Sättigung und Energiehaushalt beteiligt. Seine zentralen Komponenten sind:- Cannabinoidrezeptoren (CB1 und CB2),
- endogene Liganden wie Anandamid (AEA) und 2-Arachidonoylglycerol (2-AG),
- sowie abbauende Enzyme wie FAAH (Fatty Acid Amide Hydrolase) und MAGL.
- die Ausschüttung von Neuropeptid Y (NPY) und Agouti-related peptide (AgRP), die appetitsteigernd wirken,
- die Hemmung von POMC-Neuronen (proopiomelanocortin), die normalerweise Sättigung signalisieren,
- und die Dopaminfreisetzung im Belohnungssystem, was insbesondere den Heißhunger auf kalorienreiche Nahrung („craving“) beeinflusst [1].
- Gastrointestinale Motilität und Sekretion,
- Fettzellmetabolismus,
- Glukoseaufnahme und Lipogenese.
2. THC & CBD: Unterschiedliche Effekte auf Appetit und Gewicht
Die beiden Hauptwirkstoffe von Cannabis – THC (Δ9-Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol) – haben sehr unterschiedliche Auswirkungen auf den Appetit. Während THC bekannt für seine appetitanregenden („munchies“) Effekte ist, kann CBD in bestimmten Dosierungen sogar eine appetitzügelnde Wirkung entfalten.THC: Stimulation des Appetits über CB1
THC ist ein partieller Agonist des CB1-Rezeptors, der insbesondere im Hypothalamus die Ausschüttung appetitanregender Neurotransmitter wie NPY und Galanin fördert. Zusätzlich erhöht es die Dopaminfreisetzung im mesolimbischen System – was zu einer erhöhten Belohnungsempfindung beim Essen führt. In Tiermodellen steigert THC die Nahrungsaufnahme bereits in geringen Dosen signifikant, insbesondere bei energiereicher Kost wie Zucker oder Fett [3]. Die Wirkung ist dosisabhängig biphasisch: Während niedrige THC-Dosen appetitsteigernd wirken, können sehr hohe Dosen paradoxerweise zu Appetitverlust, Übelkeit oder Dysphorie führen – vermutlich durch Überstimulation zentraler Rezeptoren und Toleranzeffekte [4].CBD: Regulierung statt Stimulation
CBD besitzt keine direkte agonistische Wirkung auf CB1 oder CB2, wirkt aber indirekt über andere Rezeptorsysteme (z. B. 5-HT1A, TRPV1) und durch Hemmung des FAAH-Enzyms, wodurch endogene Cannabinoide länger verfügbar bleiben [5]. In präklinischen Studien zeigte CBD:- eine Appetitreduktion in Rattenmodellen bei Übergewicht [6],
- eine modulierende Wirkung bei Stress-induziertem Essverhalten,
- potenziell stoffwechselstabilisierende Effekte, etwa durch Beeinflussung des braunen Fettgewebes.
THC:CBD-Verhältnis entscheidet
In der medizinischen Praxis hängt der Einfluss auf das Essverhalten stark vom Verhältnis beider Wirkstoffe ab. Präparate aus der Cannabis Apotheke mit hohem THC-Anteil (z. B. Dronabinol) zeigen zuverlässig orexigene Effekte – während CBD-dominierte Präparate eher neutral oder hemmend auf den Appetit wirken. Der sogenannte Entourage-Effekt kann dabei die Wirkung beider Substanzen in Kombination modulieren – beispielsweise durch die Beeinflussung der Bioverfügbarkeit oder durch Interaktionen mit Terpenen wie β-Caryophyllen [7].3. Therapeutische Anwendung bei Anorexie und Kachexie
Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust zählen zu den häufigsten Begleitsymptomen schwerer Erkrankungen wie Krebs, HIV/AIDS oder chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung (COPD). Wenn diese zu einem unbeabsichtigten Verlust von Muskelmasse und Körpergewicht führen – trotz ausreichender Ernährung – spricht man von Kachexie, einer potenziell lebensbedrohlichen Stoffwechselentgleisung. Klassische Behandlungsansätze (z. B. Kortikosteroide, Progestagene) zeigen oft nur begrenzte Wirksamkeit und bringen erhebliche Nebenwirkungen mit sich.Dronabinol und Nabilon: Cannabinoide als Appetitanreger
Für den medizinischen Einsatz bei Kachexie stehen vor allem zwei Wirkstoffe im Fokus:- Dronabinol (synthetisches Δ9-THC)
- Nabilon (THC-Derivat)
- Appetit und Geschmacksempfinden verbessern
- Übelkeit und Erbrechen lindern
- Gewichtsstabilisierung fördern, wenn auch oft ohne signifikante Gewichtszunahme [8]
Kombination mit Ernährungstherapie und Bewegung
Cannabinoide wirken bei Kachexie nicht „alleinheilend“. Ihre Wirkung entfaltet sich am besten in Kombination mit:- kalorienreicher Ernährung,
- proteingerechter Supplementation,
- und – sofern möglich – moderater körperlicher Aktivität zur Erhaltung der Muskelmasse.
4. Cannabis bei Essstörungen – Chancen und Risiken
Essstörungen wie Anorexia nervosa, Binge-Eating-Störung oder Bulimie sind komplexe psychische Erkrankungen mit hohem Leidensdruck, starker Körperbildverzerrung und oft chronischem Verlauf. Der potenzielle Einsatz von Cannabinoiden in diesem Kontext ist Gegenstand zunehmender Diskussion – birgt jedoch ambivalente Risiken und Chancen, die individuell abgewogen werden müssen.Potenzial bei restriktiver Anorexie?
Einige kleinere Fallstudien und präklinische Untersuchungen deuten darauf hin, dass THC-haltige Präparate bei Patient:innen mit Anorexia nervosa positive Effekte auf Appetit, Essverhalten und Stimmung haben könnten. In einer randomisierten Doppelblindstudie führte Dronabinol zu einer leichten, aber signifikanten Gewichtszunahme bei betroffenen Patientinnen – ohne schwerwiegende Nebenwirkungen [10]. Gleichzeitig wurde berichtet, dass THC bei einigen Betroffenen den Zwang zur Nahrungsaufnahme reduzieren und somit eine emotional entlastende Wirkung entfalten kann. Auch die affektstabilisierende Wirkung von CBD bei komorbiden Angststörungen oder depressiven Symptomen wird diskutiert.Risiko: Kontrollverlust und Binge-Eating
Dem gegenüber steht jedoch das potenzielle Risiko, dass Cannabinoide – insbesondere THC – Essanfälle (Binge-Eating) verstärken oder auslösen können. Studien zeigen, dass THC bei vulnerablen Patient:innen zu einer Verstärkung impulsiven Essverhaltens führen kann, insbesondere in Verbindung mit emotionaler Dysregulation oder Zwangssymptomatik [11]. Darüber hinaus kann die psychoaktive Wirkung von THC bei Betroffenen mit stark ausgeprägten Körperbildstörungen zu Verunsicherung, Angst oder paranoiden Gedanken führen – etwa durch veränderte Wahrnehmung des Körpers oder „Kontrollverlust“.Komorbiditäten im Blick behalten
Essstörungen sind selten isoliert: Häufig bestehen Komorbiditäten wie Angststörungen, Zwangsstörungen oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Die Wirkung von Cannabinoiden kann in diesen Fällen schwer vorhersehbar sein – und muss sehr differenziert eingeschätzt werden. Der Einsatz von medizinischem Cannabis bei Essstörungen sollte daher nur im therapeutisch kontrollierten Rahmen, mit klarer Indikationsstellung und engmaschiger psychiatrisch-psychotherapeutischer Begleitung erfolgen. Selbstmedikation ist in diesem Kontext ausdrücklich nicht zu empfehlen.5. Übergewicht & Adipositas: Ist das ECS ein Risikofaktor?
Während Cannabinoide bei krankheitsbedingter Appetitlosigkeit therapeutisches Potenzial entfalten, stellt sich umgekehrt die Frage: Kann das Endocannabinoid-System auch zur Entstehung von Übergewicht beitragen? Tatsächlich mehren sich die Hinweise, dass eine chronische Überaktivierung des CB1-Rezeptors – insbesondere im peripheren Gewebe – mit Fettleibigkeit (Adipositas) und metabolischen Störungen in Zusammenhang steht.CB1-Rezeptoren im Stoffwechsel – ein zweischneidiges Schwert
CB1-Rezeptoren befinden sich nicht nur im Gehirn, sondern auch im Fettgewebe, Leber, Magen-Darm-Trakt und Pankreas. Ihre Aktivierung fördert:- die Fettneubildung (Lipogenese),
- die Hemmung der Fettsäureoxidation,
- die Insulinresistenz und
- eine gesteigerte Nahrungsaufnahme über zentrale Mechanismen im Hypothalamus [12].