Palliativpatient:innen leiden oft unter mehreren gleichzeitig bestehenden Symptomen, die mit den üblichen Therapien nicht ausreichend kontrolliert werden können – dazu zählen chronische Schmerzen, Übelkeit/Erbrechen, Appetitverlust/Kachexie, Schlafstörungen und Angst. Diese Beschwerden wirken sich erheblich auf Lebensqualität, Autonomie und Therapieadhärenz aus.
Cannabinoide werden in der Palliativmedizin diskutiert, weil sie gleichzeitig auf mehrere Symptomcluster wirken können. In den bisherigen Studien und Registerdaten zeigen sich Hinweise auf Nutzen bei Schmerz (Portenoy et al. 2012, J Pain 13(5):438–449), Übelkeit und Erbrechen (Meiri et al. 2007, Cancer 110(11):2467–2473) sowie Appetitsteigerung (Strasser et al. 2006, J Clin Oncol 24(21):3394–3400).
Auch Beobachtungsdaten deuten an, dass Patient:innen unter medizinischem Cannabis besseren Schlaf, weniger Fatigue und verbesserte Lebensqualität berichten (Habib & Artul 2018, Clin Exp Rheumatol 36(Suppl 114):S40–S44; Häuser et al. 2019, Schmerz 33(2):139–148).
Wirkmechanismen
Das Endocannabinoid-System (ECS) ist in mehreren physiologischen Prozessen aktiv, die für Palliativpatient:innen besonders relevant sind: Schmerzverarbeitung, Übelkeits-/Brechreflexe, Appetit- und Gewichtskontrolle, Schlaf und Stimmung.
CB1-Rezeptoren sitzen in zentralen und peripheren Schmerzbahnen sowie im Brechzentrum (Area postrema, Nucleus tractus solitarii) und im Hypothalamus. Über sie kann THC sowohl die Schmerzübertragung hemmen, die Brechreflexe modulieren als auch den Appetit steigern (Pertwee 2002, Pharmacol Ther 95(2):119–143).
CB2-Rezeptoren befinden sich vor allem auf Immun- und Gliazellen und spielen bei neuroinflammatorischen Prozessen eine Rolle, was ebenfalls zu einer Symptomlinderung beitragen könnte (Russo 2016, Cannabis Cannabinoid Res 1:154–165).
CBD greift zusätzlich an nicht-CB1/CB2-Zielstrukturen wie 5-HT1A, TRPV1 und PPARγ an, was antinflammatorische, anxiolytische und antiemetische Effekte vermitteln kann (Parker et al. 2011, Br J Pharmacol 163:1411–1423).
In THC/CBD-Kombinationen ergibt sich dadurch ein multimodaler Ansatz, der verschiedene Symptomcluster der Palliativmedizin gleichzeitig adressiert:
– Analgesie bei chronischen Schmerzen,
– Antiemese bei CINV,
– Appetitsteigerung bei Anorexie/Kachexie,
– Schlaf- und Angstlinderung als sekundäre Effekte.
Studienlage
Schmerz:
Portenoy et al. (2012, J Pain 13(5):438–449) führten eine randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Studie mit 360 Patient:innen mit opioidrefraktären Tumorschmerzen durch. THC/CBD-Spray (Nabiximols) reduzierte die mittlere Schmerzintensität klinisch relevant bei moderater Verträglichkeit. In einer offenen Verlängerung blieb die analgetische Wirkung stabil, ohne neue Sicherheitssignale (Lynch et al. 2014, J Pain Symptom Manage 47(3):571–583).
Übelkeit und Erbrechen:
Meiri et al. (2007, Cancer 110(11):2467–2473) untersuchten 243 Patient:innen mit therapieresistenter Chemotherapie-induzierter Übelkeit und Erbrechen (CINV). THC/CBD-Extrakt führte zu signifikant weniger Erbrechen und besserem subjektiven Wohlbefinden gegenüber Placebo; der THC-Monokomponentenarm war weniger wirksam.
Appetit/Kachexie:
Strasser et al. (2006, J Clin Oncol 24(21):3394–3400) randomisierten Patient:innen mit Tumor-assoziierter Anorexie auf THC-Extrakt, THC (Dronabinol) oder Placebo. Ergebnis: Verbesserung von Appetit und Geschmackswahrnehmung unter THC-haltigen Armen; Gewichtsveränderungen blieben insgesamt heterogen.
Beobachtungs- und Registerdaten:
Habib & Artul (2018, Clin Exp Rheumatol 36(Suppl 114):S40–S44) werteten Palliativ- und Schmerzpatient:innen unter medizinischem Cannabis aus. Berichtet wurden Schmerzlinderung, besserer Schlaf, weniger Fatigue und verbesserte Lebensqualität.
Häuser et al. (2019, Schmerz 33(2):139–148) bestätigen in einer deutschen Kohorte Schmerzlinderung und Verbesserungen in patientenberichteten Outcomes bei Palliativpatient:innen.
Einordnung:
Cannabinoide sind in mehreren Studien als Add-on zu Standardtherapien geprüft. Daten zeigen Hinweise auf Nutzen in mehreren Symptomclustern (Schmerz, Übelkeit, Appetit), doch die Studien sind heterogen, meist kurzfristig und überwiegend auf THC/CBD-Spray oder THC-haltige Präparate begrenzt.
Sicherheit und Nebenwirkungen
Häufige, meist dosisabhängige Effekte (THC-/THC+CBD-Präparate):
- Schläfrigkeit/Sedierung, Schwindel/Benommenheit, Mundtrockenheit, Übelkeit, teils Appetitveränderungen. Ereignisse waren in RCTs überwiegend mild–moderat (Portenoy et al. 2012, J Pain 13:438–449; Meiri et al. 2007, Cancer 110:2467–2473).
- In Langzeit-Verlängerungen blieb das Nebenwirkungsprofil stabil, ohne neue Sicherheitssignale (Lynch et al. 2014, J Pain Symptom Manage 47:571–583).
ZNS-/psychiatrische Effekte (v. a. THC-haltig):
- Aufmerksamkeits-/Reaktionszeitminderung, gelegentlich Angst/Dysphorie; relevant für Sturzrisiko und Alltagsaktivitäten (Portenoy et al. 2012, J Pain 13:438–449).
CBD-spezifische Punkte:
- Insgesamt gute Verträglichkeit; in hohen Dosen möglich: Schläfrigkeit, gastrointestinale Beschwerden und Anstieg der Leberenzyme – besonders bei Polypharmazie → Leberwerte monitoren (Devinsky et al. 2017, N Engl J Med 376:2011–2020).
Interaktionen (palliativ relevant):
- Additive Sedierung mit Opioiden, Benzodiazepinen, Z-Drugs, H1-Antihistaminika und antiemetischen Dopaminantagonisten (Meiri et al. 2007, Cancer 110:2467–2473; Whiting et al. 2015, JAMA 313:2456–2473).
- CYP-Interaktionen (CBD/THC): CBD hemmt u. a. CYP2C19/CYP3A4 → potenzielle Spiegelanstiege begleitender Medikamente (z. B. Benzodiazepine, Antidepressiva, Antiemetika); klinisch überwachen (Devinsky et al. 2017, N Engl J Med 376:2011–2020).
- Gebrechlichkeit/Orthostase: Erhöhtes Sturzrisiko bei frailen Patient:innen → langsames Auftitrieren, Abendgabe erwägen, regelmäßige Sturzrisiko-Evaluation (Lynch et al. 2014, J Pain Symptom Manage 47:571–583).
Einordnung:
Das Sicherheitsprofil ist in palliativ-onkologischen Studien vorhersagbar und dosisabhängig. Nebenwirkungen lassen sich häufig durch niedrige Startdosen, langsame Titration, Komedikations-Check und engmaschige Verlaufskontrolle beherrschen (Portenoy et al. 2012; Meiri et al. 2007; Lynch et al. 2014; Whiting et al. 2015).
Off-Label-Use und offene Forschungsfragen
In Deutschland existiert kein Cannabisarzneimittel mit genereller Palliativ-Zulassung. Anwendungen erfolgen off-label zur Symptomkontrolle (v. a. Schmerz, Übelkeit/Erbrechen, Appetit, Schlaf) und stützen sich auf RCTs in Einzelsymptomen sowie Register-/Beobachtungsdaten (Portenoy et al. 2012, J Pain 13:438–449; Meiri et al. 2007, Cancer 110:2467–2473; Strasser et al. 2006, J Clin Oncol 24:3394–3400; Häuser et al. 2019, Schmerz 33:139–148).
Offene Fragen:
- Priorisierung & Sequenz: Welche Symptomcluster (Schmerz vs. CINV vs. Appetit/Schlaf) profitieren am meisten und zu welchem Zeitpunkt im palliativmedizinischen Verlauf? (Whiting et al. 2015, JAMA 313:2456–2473).
- Präparate & Dosisfindung: Optimale THC/CBD-Verhältnisse, Applikationsformen (oromukosal, oral, inhalativ), Titrationsschemata und Zielbereiche (z. B. Abendgabe bei Sedierung) sind nicht standardisiert (Meiri et al. 2007; Portenoy et al. 2012).
- Vergleich mit Standards: Kaum Head-to-Head-Studien gegen etablierte Optionen (z. B. Opioid-Add-ons, Olanzapin bei CINV, Megestrolacetat bei Anorexie) – insbesondere zu Lebensqualität und Funktionsmaßen (Strasser et al. 2006; Jatoi et al. 2002, J Clin Oncol 20:567–573).
- Langzeitsicherheit bei Frailty/Polypharmazie: Bedarf an prospektiven Daten zu kognitiven Effekten, Sturzrisiko, Verkehrssicherheit und CYP-Interaktionen (CBD: CYP2C19/CYP3A4) unter realen palliativmedizinischen Bedingungen (Devinsky et al. 2017, N Engl J Med 376:2011–2020).
- Nicht-onkologische Palliativsituationen: Evidenz zu fortgeschrittener Herz-/Lungenerkrankung, neurodegenerativen Erkrankungen oder Nieren-/Leberinsuffizienz ist sehr begrenzt (Russo 2016, Cannabis Cannabinoid Res 1:154–165).
- Patient:innen-Selektion & Ziele: Welche Profile (z. B. Schlafdominanz, Angst, opioidrefraktärer Schmerz, refraktäre CINV) sprechen am besten an? Realistische Behandlungsziele (z. B. Appetit/Essgenuss vs. Gewichtszunahme) müssen klar definiert werden (Strasser et al. 2006; Meiri et al. 2007).
Konsequenz für die Praxis: Einsatz individuell als Add-on zu Standardmaßnahmen, mit niedrigen Startdosen, langsamer Titration, regelmäßiger Zielüberprüfung (Schmerz, Übelkeit, Appetit, Schlaf, QoL) und engmaschiger Kontrolle von Sedierung, Orthostase und Interaktionen (Portenoy et al. 2012; Meiri et al. 2007; Whiting et al. 2015).
Zusammenfassung der Evidenz:
Randomisierte Studien zeigen, dass THC/CBD-Spray (Nabiximols) bei opioidrefraktären Tumorschmerzen eine klinisch relevante Schmerzreduktion erreichen kann (Portenoy et al. 2012, J Pain 13:438–449; Lynch et al. 2014, J Pain Symptom Manage 47:571–583). THC/CBD-Extrakte bessern in kleineren RCTs Chemotherapie-induzierte Übelkeit/Erbrechen (Meiri et al. 2007, Cancer 110:2467–2473) und THC-haltige Präparate steigern Appetit und Genuss bei Krebsanorexie, wenngleich Gewichtszunahmen inkonsistent bleiben (Strasser et al. 2006, J Clin Oncol 24:3394–3400). Beobachtungs- und Registerdaten deuten zudem auf besseren Schlaf, weniger Fatigue und verbesserte Lebensqualität hin (Habib & Artul 2018, Clin Exp Rheumatol 36:S40–S44; Häuser et al. 2019, Schmerz 33:139–148).
Sicherheit: Häufig Schläfrigkeit/Sedierung, Schwindel, Mundtrockenheit und gelegentlich psychoaktive Effekte; dosisabhängig. CBD ist meist gut verträglich, kann in hohen Dosen Leberenzyme ansteigen lassen; bei Polypharmazie Werte kontrollieren (Devinsky et al. 2017, N Engl J Med 376:2011–2020).
Einordnung: In Deutschland gibt es kein zugelassenes Cannabisarzneimittel für die Palliativmedizin insgesamt. Der Einsatz erfolgt off-label zur Symptomkontrolle (Schmerz, CINV, Appetit, Schlaf) – vorzugsweise additiv zu Standardtherapien, mit niedrigen Startdosen, langsamer Titration und engmaschiger Überwachung.
Forschungsbedarf: Für eine breite Empfehlung fehlen große, placebokontrollierte RCTs mit standardisierten Präparaten, Lebensqualitäts- und Funktionsmaßen und Langzeitsicherheit bei Palliativpatient:innen (Whiting et al. 2015, JAMA 313:2456–2473; Häuser et al. 2019, Schmerz 33:139–148).