Das Tourette-Syndrom ist eine neuropsychiatrische Erkrankung, die sich durch motorische und vokale Tics äußert. Viele Betroffene leiden zudem unter komorbiden Störungen wie Zwangssymptomen, Impulskontrollproblemen, Angst oder ADHS. Standardtherapien wie Neuroleptika oder Verhaltenstherapie können Tics lindern, sind jedoch häufig mit Nebenwirkungen verbunden oder zeigen nur begrenzte Wirksamkeit.
Vor diesem Hintergrund rückt der Einsatz von Cannabisarzneien als mögliche Therapieoption in den Fokus. Besonders interessant ist dabei der Wirkstoff Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC), der über CB1-Rezeptoren in den Basalganglien ansetzt – genau dort, wo die Tic-Pathophysiologie verortet wird.
Die bislang besten klinischen Daten stammen aus Deutschland:
– In einer doppelblinden Cross-over-Studie an 12 Patient:innen zeigte eine Einzeldosis THC (10 mg) eine signifikante Reduktion der Tic-Symptomatik gemessen mit der Yale Global Tic Severity Scale (Müller-Vahl et al. 2002, Pharmacopsychiatry 35:57–61).
– In einer anschließenden doppelblinden Parallelgruppenstudie mit 24 Patient:innen führte eine sechswöchige THC-Gabe (bis 10 mg/Tag) zu einer deutlichen Abnahme von Tics und Impulskontrollstörungen (Müller-Vahl et al. 2003, Pharmacopsychiatry 36:182–186).
Diese Daten legen nahe, dass THC bei therapieresistentem Tourette-Syndrom eine potenzielle Option darstellen könnte – allerdings beruhen sie auf kleinen Stichproben und sind daher als vorläufig zu betrachten.
Warum Cannabinoide beim Tourette-Syndrom wirken könnten
Das Endocannabinoid-System (ECS) spielt eine zentrale Rolle bei der Modulation motorischer und emotionaler Prozesse in den Basalganglien und im limbischen System – also in genau den Hirnregionen, die bei der Entstehung von Tics und Begleitsymptomen relevant sind. CB1-Rezeptoren finden sich dort in hoher Dichte auf glutamatergen und GABAergen Neuronen. Eine Aktivierung kann die Freisetzung exzitatorischer Neurotransmitter hemmen und dadurch neurale Übererregung dämpfen, die zur Tic-Entstehung beiträgt (Pertwee 2002, Pharmacol Ther 95(2):119–143).
THC bindet als partieller Agonist an CB1-Rezeptoren und moduliert so die Aktivität der Basalganglienkreise. In präklinischen Modellen und den kleinen RCTs von Müller-Vahl et al. (2002, Pharmacopsychiatry 35:57–61; 2003, Pharmacopsychiatry 36:182–186) wird dieser Mechanismus als Erklärung für die Reduktion der Tic-Frequenz und -Intensität diskutiert.
CBD besitzt dagegen keine starke CB1-Aktivität, wirkt aber über Serotonin-5-HT1A-, TRPV- und PPAR-Rezeptoren. Diese Zielstrukturen werden mit angstlösenden und antipsychotischen Effekten in Verbindung gebracht, die sich positiv auf komorbide Symptome wie Impulskontrollstörungen oder Angst auswirken können (Crippa et al. 2011, J Psychopharmacol 25:121–130).
Insgesamt sprechen diese Mechanismen dafür, dass Cannabinoide – vor allem THC, aber möglicherweise auch CBD – direkt oder indirekt motorische Tics und assoziierte psychische Symptome beeinflussen können.
Studienlage
Randomisierte Studien
Die bisher belastbarsten Daten stammen aus zwei kleinen, aber methodisch soliden Studien von Müller-Vahl und Kolleg:innen:
- Müller-Vahl et al. 2002 (Pharmacopsychiatry 35:57–61): In einer doppelblinden Cross-over-Studie erhielten 12 Erwachsene mit therapieresistentem Tourette-Syndrom eine Einzeldosis Δ9-THC (10 mg) oder Placebo. Es zeigte sich eine signifikante Reduktion der Tic-Symptomatik gemessen mit der Yale Global Tic Severity Scale (YGTSS).
- Müller-Vahl et al. 2003 (Pharmacopsychiatry 36:182–186): In einer doppelblinden Parallelgruppenstudie mit 24 Patient:innen wurde THC (bis 10 mg/Tag über sechs Wochen) gegen Placebo getestet. Die THC-Gruppe zeigte eine deutliche Abnahme von Tics und Impulskontrollstörungen sowie Verbesserungen in Lebensqualität und globaler Schwere.
Offene Studien und Fallberichte
Darüber hinaus liegen offene Studien und Fallberichte vor, in denen THC, Nabilon oder Cannabisblüten bei therapieresistentem Tourette-Syndrom eingesetzt wurden. Diese deuten ebenfalls auf eine Verbesserung von Tic-Frequenz und Begleitsymptomen hin, sind jedoch nicht kontrolliert und daher nur als explorativ zu werten (Müller-Vahl et al. 2003, Pharmacopsychiatry 36:182–186).
Systematische Übersichten und Metaanalysen
Systematische Reviews, die diese Studien zusammenfassen, bewerten die Evidenz insgesamt als niedrig bis moderat. Sie bestätigen einen potenziellen Nutzen von THC bei Tics und sehen bei CBD vor allem theoretische Vorteile für komorbide Angst oder Impulskontrolle (Cannabis Science and Therapeutics, Kap. 4.4.3; Müller-Vahl & Grotenhermen, Kap. Tourette).
Einordnung:
Die Datenlage ist im Vergleich zu anderen Indikationen noch schmal. Es gibt Hinweise auf kurzfristige Wirksamkeit von THC bei Tics und Begleitsymptomen, aber keine großen multizentrischen RCTs und keine belastbaren Daten zur Langzeitwirksamkeit.
Sicherheit und Nebenwirkungen
In den beiden randomisierten Studien von Müller-Vahl und Kolleg:innen waren die Nebenwirkungen unter THC insgesamt mild bis moderat. Am häufigsten berichteten die Teilnehmenden über Müdigkeit/Schläfrigkeit, Schwindel, Mundtrockenheit und gelegentlich leichte kognitive Beeinträchtigungen. Diese Effekte traten dosisabhängig auf und verschwanden meist bei Dosisanpassung oder nach Absetzen (Müller-Vahl et al. 2002, Pharmacopsychiatry 35:57–61; Müller-Vahl et al. 2003, Pharmacopsychiatry 36:182–186).
Psychische Effekte wie vorübergehende Angst, Dysphorie oder Stimmungsschwankungen wurden nur vereinzelt berichtet und waren reversibel (Müller-Vahl et al. 2003, Pharmacopsychiatry 36:182–186). Schwere unerwünschte Ereignisse traten in keiner der beiden RCTs auf.
Bei CBD-Präparaten liegen bislang keine randomisierten Studien zum Tourette-Syndrom vor, sodass sich Aussagen zu Nebenwirkungen auf Beobachtungsdaten und Erfahrungen aus anderen Indikationen stützen. Hier zeigen sich vor allem Schläfrigkeit, verminderter Appetit und erhöhte Leberenzyme in hohen Dosen (Devinsky et al. 2017, N Engl J Med 376:2011–2020).
Auch in offenen Anwendungen (Nabilon, Cannabisblüten) wurden überwiegend milde unerwünschte Effekte gemeldet; schwerwiegende Nebenwirkungen oder Abhängigkeitssyndrome sind in der Literatur zu Tourette bislang nicht beschrieben.
Off-Label-Use und offene Forschungsfragen
Für das Tourette-Syndrom existiert keine zugelassene cannabinoidbasierte Therapie. Wenn Cannabinoide eingesetzt werden, geschieht dies off-label – meist als THC (z. B. Dronabinol), vereinzelt Nabilon oder standardisierte Cannabisextrakte. Die Evidenz stützt sich primär auf zwei kleine RCTs mit THC sowie offene Fallserien; robuste Daten zu CBD fehlen bislang (Müller-Vahl et al. 2002, Pharmacopsychiatry 35:57–61; Müller-Vahl et al. 2003, Pharmacopsychiatry 36:182–186).
Was off-label praxisrelevant ist:
- Patient:innenselektion: Bisherige RCTs untersuchten vor allem therapieresistente erwachsene Patient:innen; zur Langzeitwirksamkeit und zu jüngeren Altersgruppen fehlen Daten (Müller-Vahl et al. 2002; 2003).
- Zielparameter: Kurzfristige Tic-Reduktion (YGTSS) ist gezeigt; unklar ist der Einfluss auf Funktionalität, Lebensqualität und komorbide Symptome (z. B. Zwang, ADHS) über längere Zeiträume (Müller-Vahl et al. 2003, Pharmacopsychiatry 36:182–186).
- Dosierung/Titration: Für THC existieren keine standardisierten Schemata; die RCTs arbeiteten mit Einzeldosis (10 mg) bzw. bis zu 10 mg/Tag über 6 Wochen. Über Dosis-Wirkungs-Beziehungen, Responder-Profile und Abbruchraten bei höheren Dosen liegen keine belastbaren Daten vor (Müller-Vahl et al. 2002; 2003).
- Sicherheitsprofil: Kurzfristig überwiegend milde unerwünschte Wirkungen (Müdigkeit, Schwindel, Mundtrockenheit, leichte kognitive Effekte); Langzeitsicherheit (kognitiv/psychiatrisch, kardiovaskulär) ist ungenügend untersucht (Müller-Vahl et al. 2002; 2003).
- Wirkstoffwahl: Für CBD fehlen RCTs beim Tourette-Syndrom; potenzielle Vorteile (z. B. bei Angst/Impulskontrolle) sind theoretisch und aus anderen Indikationen abgeleitet – es besteht Forschungsbedarf zu CBD-Monotherapie und THC/CBD-Kombinationen.
- Kombinationsstrategien: Unklar ist, wie Cannabinoide mit Verhaltenstherapie (z. B. CBIT) oder Antipsychotika/Alpha-2-Agonisten optimal kombiniert werden können (Müller-Vahl et al. 2003, Pharmacopsychiatry 36:182–186).
- Formulierung/Pharmakokinetik: Daten zu standardisierten Extrakten reinem THC (Dronabinol/Nabilon) fehlen; vergleichende Studien zu Wirkbeginn, Dauer, Alltagsverträglichkeit und Interaktionen stehen aus.
Kurzfazit: Der off-label-Einsatz von Cannabinoiden beim Tourette-Syndrom beruht auf vorläufiger Evidenz mit kleinen RCTs zu THC. Entscheidend sind individuelle Nutzen-Risiko-Abwägungen, langsame Titration und engmaschige Verlaufskontrolle, bis größere, methodisch stringente Studien zu Wirksamkeit, Dosierung, Sicherheit und Kombinationstherapien vorliegen (Müller-Vahl et al. 2002, Pharmacopsychiatry 35:57–61; Müller-Vahl et al. 2003, Pharmacopsychiatry 36:182–186).
Datenlage
Kleine randomisierte Studien zeigen, dass THC die Tic-Frequenz und -Intensität senken kann und teils Impulskontrollstörungen bessert; die Datenbasis ist jedoch schmal und kurzzeitig (Müller-Vahl et al. 2002, Pharmacopsychiatry 35:57–61; Müller-Vahl et al. 2003, Pharmacopsychiatry 36:182–186). Für CBD liegen beim Tourette-Syndrom keine RCTs vor; potenzielle Vorteile leiten sich bislang aus anderen Indikationen ab. Insgesamt spricht die Evidenz für eine mögliche Option bei therapieresistenter Symptomatik, erfordert aber individuelle Abwägung, langsames Auftitrieren und engmaschige Verlaufskontrolle sowie Studien mit größeren Stichproben, längeren Laufzeiten und standardisierten Präparaten (Müller-Vahl et al. 2002; Müller-Vahl et al. 2003).