Parkinson ist eine chronisch fortschreitende neurodegenerative Erkrankung, die durch den Verlust dopaminerger Nervenzellen in der Substantia nigra gekennzeichnet ist. Typische motorische Symptome sind Tremor, Rigor und Bradykinesie; viele Betroffene entwickeln im Verlauf zudem L-Dopa-induzierte Dyskinesien. Nicht-motorische Symptome wie Angst, Schlafstörungen und Schmerzen tragen wesentlich zur Krankheitslast bei.
Die Standardtherapie mit L-Dopa und Dopaminagonisten lindert vor allem motorische Beschwerden, stößt jedoch bei Dyskinesien und nicht-motorischen Symptomen an Grenzen. Vor diesem Hintergrund rückt seit einigen Jahren der mögliche Einsatz von Cannabisarzneien in den Blick. Insbesondere wird untersucht, ob Cannabinoide motorische Komplikationen (z. B. Dyskinesien) und nicht-motorische Symptome wie Angst, Schlafstörungen oder Schmerzen beeinflussen können.
Erste randomisierte Studien und kleinere klinische Untersuchungen geben Hinweise:
– In einer doppelblinden Cross-over-Studie von Carroll et al. (2004, Neurology 63:1245–1250) wurde untersucht, ob THC L-Dopa-induzierte Dyskinesien lindern kann.
– Chagas et al. (2014, J Psychopharmacol 28(11):1088–1098) führten eine explorative doppelblinde Studie zu CBD bei Patient:innen mit Parkinson durch und beobachteten Verbesserungen bei Lebensqualität und Wohlbefinden.
– De Faria et al. (2020, J Psychopharmacol 34(2):189–196) prüften den akuten Effekt von CBD auf Angst und Tremor während einer Belastungssituation.
Auch systematische Übersichten (Urbi et al. 2022b, zit. in Müller-Vahl & Grotenhermen) und Tiermodelle zeigen potenziell neuroprotektive und antiinflammatorische Effekte des Endocannabinoid-Systems bei Parkinson. Dennoch ist die klinische Datenlage im Vergleich zu Multiple Sklerose oder chronischen Schmerzen bislang deutlich kleiner und heterogener.
Warum Cannabinoide bei Parkinson wirken könnten
Das Endocannabinoid-System (ECS) ist eng in die Steuerung von Motorik, Schmerz- und Entzündungsprozessen eingebunden. Gerade in den Basalganglien – also den Strukturen, die bei Parkinson krankheitsbedingt besonders betroffen sind – finden sich viele CB1-Rezeptoren (u. a. in Striatum und Substantia nigra) sowie CB2-Rezeptoren auf Mikroglia und anderen Immunzellen (Van Laere et al. 2012; Ajalin et al. 2022, Mov Disord 37(8):1673–1682).
THC bindet überwiegend an CB1-Rezeptoren. In Tiermodellen und kleinen klinischen Studien deutet sich an, dass diese Bindung die neuronale Erregbarkeit und die Ausschüttung exzitatorischer Neurotransmitter moduliert und so Dyskinesien und Tremor abschwächen könnte (Carroll et al. 2004, Neurology 63:1245–1250).
CBD wirkt nicht primär an CB1/CB2-Rezeptoren, sondern moduliert andere Zielstrukturen wie Serotonin-5-HT1A-, TRPV- und PPAR-Rezeptoren. Diese Mechanismen werden mit angstlösenden, schlaffördernden und möglicherweise entzündungshemmenden Effekten in Verbindung gebracht (Chagas et al. 2014, J Psychopharmacol 28:1088–1098; Chen 2023, Pharmacol Ther 244:108394).
Daneben werden in präklinischen Studien Strategien untersucht, die körpereigenes 2-Arachidonylglycerol (2-AG) erhöhen, etwa durch Hemmung des Enzyms Monoacylglycerollipase (MAGL). Dies könnte neuroprotektive und antiinflammatorische Wirkungen entfalten (Chen 2023, Pharmacol Ther 244:108394).
In Summe sprechen diese Mechanismen dafür, dass Cannabinoide sowohl über direkte Rezeptoraktivierung (THC) als auch über Modulation weiterer Signalwege (CBD, 2-AG) Einfluss auf motorische und nicht-motorische Symptome bei Parkinson nehmen können.
Studienlage
Gesamtbild
Die klinische Evidenz ist bislang begrenzt: Es existieren wenige randomisierte, kontrollierte Studien (meist kleine Fallzahlen) und mehrere kleine, nicht-randomisierte Untersuchungen. Systematische Übersichten fassen zusammen, dass ein möglicher Nutzen v. a. für L-Dopa-induzierte Dyskinesien sowie nicht-motorische Symptome (Angst, Schlaf, Schmerzen, Lebensqualität) diskutiert wird – bei insgesamt heterogener Datenlage.
Motorische Symptome und Dyskinesien
- THC bei Dyskinesien: In einer doppelblinden Cross-over-Studie untersuchte Carroll et al. (2004, Neurology 63:1245–1250) die Wirkung von THC auf L-Dopa-induzierte Dyskinesien. Die Studie weist auf einen potenziellen Nutzen hin, ist jedoch klein und explorativ.
- Weitere kleine RCT: Sieradzan et al. (2001) evaluierten THC in einer kleinen, kontrollierten Untersuchung; auch hier deuten die Daten auf mögliche Effekte bei Dyskinesien, bleiben aber aufgrund der geringen Fallzahl unsicher.
Nicht-motorische Symptome (Angst, Schlaf, Lebensqualität, Schmerzen)
- CBD – explorative Doppelblind-Studie: Chagas et al. (2014, J Psychopharmacol 28:1088–1098) untersuchten CBD bei Parkinson-Patient:innen und berichteten Signale für Verbesserungen bei Lebensqualität/Wohlbefinden.
- CBD – akuter Effekt auf Angst/Tremor: de Faria et al. (2020, J Psychopharmacol 34:189–196) prüften eine Einzeldosis CBD in einer stressauslösenden Situation; es zeigten sich Hinweise auf eine akute Angstdämpfung und Tremorreduktion.
- CBD bei Restless-Legs-Symptomatik in PD: de Almeida et al. (2023, Cannabis and Cannabinoid Research 8:374–378) fanden in einer Phase II/III-Analyse keinen Nutzen von CBD.
Neuere randomisierte Evidenz
- CBD-dominanter Extrakt (2024): In einer RCT mit 61 Patient:innen war ein CBD-dominanter Cannabisextrakt Placebo nicht überlegen – weder für motorische noch für diverse nicht-motorische Endpunkte.
Systematische Übersichten / Meta-Analysen
- Tier- und klinische Daten im Überblick: Eine Meta-Analyse tierexperimenteller Studien (Urbi et al. 2022b) zeigt – abhängig von der Auswertungsmethode – teils therapeutische Effekte, teils keine Effekte; insgesamt sehen die Autor:innen plausible Hinweise auf mögliche klinische Vorteile.
- Klinische Evidenz bis 2022: Eine systematische Übersicht identifizierte nur fünf RCTs (n=9–38 pro Studie) sowie 18 nicht-randomisierte Studien zu CBD, Nabilon und Cannabis-Extrakt; zusammenfassend wird ein möglicher Nutzen für THC und CBD bei Tremor sowie nicht-motorischen Symptomen (Angst, Schmerz, Schlaf, Lebensqualität) berichtet – bei insgesamt geringer Evidenzstärke.
Einordnung:
Die vorhandenen Studien liefern Hinweise, aber noch keinen belastbaren Wirksamkeitsnachweis für standardisierte Cannabisarzneien bei Parkinson insgesamt. Künftige, größere RCTs mit klar definierten Endpunkten und standardisierten Präparaten sind notwendig, um Nutzen und Risiken verlässlich zu beurteilen.
Sicherheit und Nebenwirkungen
In randomisierten und offenen Studien zu THC- oder CBD-haltigen Präparaten bei Parkinson traten Nebenwirkungen überwiegend mild bis moderat auf. Am häufigsten wurden Schwindel, Müdigkeit/Schläfrigkeit, Mundtrockenheit, Übelkeit und vorübergehende kognitive Beeinträchtigungen berichtet. Diese Effekte sind dosisabhängig und nehmen bei langsamer Titration deutlich ab (Carroll et al. 2004, Neurology 63:1245–1250; Chagas et al. 2014, J Psychopharmacol 28(11):1088–1098; de Faria et al. 2020, J Psychopharmacol 34(2):189–196).
Unter CBD in höheren Dosen wurden in Studien vor allem Schläfrigkeit, verminderter Appetit, Durchfall und erhöhte Leberenzyme beobachtet (Devinsky et al. 2017, N Engl J Med 376:2011–2020 – Daten aus Epilepsie-RCTs als Sicherheitsreferenz; de Faria et al. 2020, J Psychopharmacol 34(2):189–196). Schwere unerwünschte Ereignisse sind selten und traten meist unter Placebo in ähnlicher Häufigkeit auf (Chagas et al. 2014, J Psychopharmacol 28(11):1088–1098).
Psychische Effekte wie Angst, Dysphorie oder paranoide Gedanken wurden nur vereinzelt berichtet und waren reversibel (Chagas et al. 2014, J Psychopharmacol 28(11):1088–1098).
Kardiovaskuläre Effekte wie orthostatische Hypotonie oder Tachykardie sind möglich, insbesondere unter THC-haltigen Präparaten (Carroll et al. 2004, Neurology 63:1245–1250).
Bei Kombination mit anderen zentral dämpfenden Arzneimitteln (z. B. Benzodiazepinen) kann es zu additiver Sedierung kommen; CBD kann über Hemmung von CYP2C19/CYP3A4 den Plasmaspiegel anderer Medikamente erhöhen (Devinsky et al. 2017, N Engl J Med 376:2011–2020).
Off-Label-Use und offene Forschungsfragen
Für Parkinson gibt es bislang kein zugelassenes cannabinoidhaltiges Arzneimittel. Alle THC- oder CBD-haltigen Präparate – seien es Cannabisblüten, Extrakte, magistrale Rezepturen oder isoliertes CBD – werden in diesem Zusammenhang off-label, also außerhalb einer Zulassung, verordnet. Ärzt:innen können sie nach § 31 Abs. 6 SGB V verschreiben, wenn Standardtherapien nicht ausreichend wirken; die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenkasse erfolgt nur nach Einzelfallprüfung durch den MDK oder die Krankenkasse (BfArM 2024 – Cannabis zu medizinischen Zwecken).
Die Evidenzlage ist bisher schwach: Nur wenige randomisierte Studien mit kleinen Fallzahlen liegen vor (Carroll et al. 2004, Neurology 63:1245–1250; Chagas et al. 2014, J Psychopharmacol 28(11):1088–1098; de Faria et al. 2020, J Psychopharmacol 34(2):189–196). Systematische Reviews betonen, dass die Ergebnisse zu motorischen und nicht-motorischen Symptomen heterogen sind und keine gesicherten Dosierungsempfehlungen abgeleitet werden können (Urbi et al. 2022b, systematische Übersicht tierexperimenteller Studien zu Cannabinoiden bei Parkinson).
Offene Forschungsfragen betreffen vor allem:
– Langzeitwirksamkeit über mehrere Jahre und verschiedene Krankheitsstadien,
– optimale Dosierung und Titration bei unterschiedlichen Symptomen,
– Kombinationsstrategien mit Standardmedikamenten (z. B. L-Dopa),
– Langzeitsicherheit hinsichtlich kognitiver und psychiatrischer Effekte,
– Vergleich verschiedener Zubereitungen (isolierte Cannabinoide vs. Vollspektrumextrakte).
Bis diese Daten vorliegen, sollten Anwendungen individuell begründet, sorgfältig dokumentiert und ärztlich eng begleitet werden.