Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Viele Betroffene leiden unter Spastik, neuropathischen Schmerzen, Fatigue und Schlafstörungen. Wenn klassische Therapien an ihre Grenzen stoßen, kann medizinisches Cannabis eine zusätzliche Behandlungsoption darstellen – vor allem bei therapieresistenter Spastik.
Wie wirkt Cannabis bei MS?
Cannabis wirkt über das körpereigene Endocannabinoidsystem (ECS), das u. a. an der Modulation motorischer Funktionen, der Schmerzwahrnehmung und der Stimmung beteiligt ist. Die beiden Hauptwirkstoffe THC (Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol) greifen an unterschiedlichen Rezeptoren an:
THC: muskelentspannend, schmerzlindernd, spasmolytisch, schlaffördernd
CBD: anxiolytisch, antientzündlich, neuroprotektiv [1]
Ziel der Behandlung ist nicht die Heilung der Grunderkrankung, sondern die gezielte Linderung belastender Symptome.
Für welche Beschwerden ist Cannabis geeignet?
In Studien und Erfahrungsberichten zeigt sich ein therapeutischer Nutzen insbesondere bei:
Spastik: Linderung der Muskelverkrampfungen und Verbesserung der Beweglichkeit
Neuropathischer Schmerz: z. B. brennende, stechende Missempfindungen
Fatigue: Verbesserung des Tag-Nacht-Rhythmus durch bessere Schlafqualität
Schlafstörungen: Einschlaf- und Durchschlafprobleme, nächtliche Spastik
Einige Patient:innen berichten zusätzlich von einer positiven Wirkung auf Stimmung und Lebensqualität, etwa durch mehr Alltagskontrolle und Reduktion von Medikamentennebenwirkungen.
Was sagen Studien und Leitlinien?
Das bislang am besten untersuchte Präparat bei MS ist Nabiximols (Handelsname: Sativex®), ein standardisiertes Mundspray mit definiertem THC- und CBD-Gehalt. Es ist europaweit zugelassen zur Behandlung moderater bis schwerer Spastik, wenn andere Antispastika unzureichend wirken.
In einer kontrollierten Doppelblindstudie zeigte sich:
signifikante Reduktion der Spastikstärke
Verbesserung der Lebensqualität und Nachtruhe
gute Verträglichkeit bei langsamer Dosissteigerung [2]
Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) empfiehlt Cannabinoide als Add-on-Therapie bei therapieresistenter Spastik und verweist auf die Zulassungssituation von Nabiximols [3].
Welche Formen der Anwendung gibt es?
Je nach Symptomatik und individueller Verträglichkeit kommen folgende Formen zum Einsatz:
Darreichungsform | Eigenschaften |
---|---|
Cannabisblüten | inhalativ, schneller Wirkungseintritt (Minuten), flexibel steuerbar |
Cannabisextrakte | oral, konstanter Wirkspiegel, gut für Tagesdosis geeignet |
Nabiximols (Sativex®) | Fertigarzneimittel mit definierter Dosierung, rezeptpflichtig |
Die Wahl hängt vom Therapieziel, der bisherigen Medikation und der individuellen Empfindlichkeit gegenüber THC ab.
Risiken und Grenzen
Cannabis ist kein Ersatz für krankheitsmodifizierende Therapien. Mögliche Nebenwirkungen sind:
Müdigkeit, Schwindel, Mundtrockenheit
in Einzelfällen kognitive Einschränkungen oder Angstgefühle
Dosisanpassungen bei älteren Patient:innen oder Leber-/Nierenerkrankung notwendig
Wechselwirkungen mit anderen zentral wirksamen Substanzen (z. B. Benzodiazepinen, Opioiden) sollten vorab ärztlich geprüft werden.
Eine Option bei therapierefraktärer Symptomatik
Für MS-Patient:innen mit ausgeprägter Spastik, Schmerzen oder Schlafstörungen, die auf gängige Medikamente unzureichend ansprechen, kann medizinisches Cannabis eine sinnvolle Ergänzung sein. Die bisherige Studienlage spricht für einen gezielten Einsatz – unter ärztlicher Kontrolle, mit individueller Dosierung und regelmäßiger Überprüfung der Therapieziele.
Literatur
[1] Müller-Vahl K. In: Müller-Vahl, K./Grotenhermen, F. (Hrsg.): Cannabis und Cannabinoide in der Medizin. 2024. Kapitel: Endocannabinoidsystem und neurologische Erkrankungen.
[2] Collin C. et al. (2007): A double-blind, randomized, placebo-controlled trial of Sativex in subjects with symptoms of spasticity due to multiple sclerosis. Eur J Neurol. 14(2): 290–296.
[3] Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN): S1-Leitlinie Multiple Sklerose, 2021. www.dgn.org