Depressionen sind häufige und belastende affektive Störungen, die durch anhaltend gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen und oft auch körperliche Beschwerden gekennzeichnet sind. Weltweit leiden Hunderte Millionen Menschen darunter; viele Betroffene sprechen nur teilweise oder gar nicht auf Standardtherapien wie Antidepressiva oder Psychotherapie an. Diese Medikamente können zudem Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, sexuelle Dysfunktion, innere Unruhe oder emotionale Abstumpfung verursachen.
Vor diesem Hintergrund wird zunehmend der Anwendungsfall Cannabis bei Depressionen diskutiert. Cannabinoidhaltige Präparate, vor allem CBD-reiche Extrakte, werden von einzelnen Patient:innen als hilfreich bei Stimmung, Angst und Schlaf beschrieben. In Beobachtungsstudien zeigen sich jedoch heterogene Ergebnisse: In einer Kohortenstudie von Feingold et al. (2017, J Affect Disord 218:1–8) war Cannabiskonsum bei depressiven Patient:innen teils mit Symptomlinderung, teils mit höherer Depressionsschwere assoziiert. Ähnliche widersprüchliche Befunde berichten Lev-Ran et al. (2014, Addict Behav 39(12):1803–1808) aus einer großen Bevölkerungsstichprobe.
Zu standardisierten Cannabisarzneien liegen bisher nur Pilotdaten vor. So untersuchte Sarris et al. (2020, J Affect Disord 274:1032–1045) ein Cannabinoid-Derivat bei Stimmung und Angst und fand zwar Hinweise auf Verbesserungen, aber keine belastbaren Wirksamkeitsnachweise. Es gibt kein zugelassenes Cannabispräparat für Depressionen, und die bisherige Evidenz reicht nicht aus, um eine therapeutische Empfehlung abzuleiten (Black et al. 2019, Lancet Psychiatry 6(12):995–1010).
Warum Cannabinoide bei Depressionen wirken könnten
Das Endocannabinoid-System (ECS) spielt eine zentrale Rolle bei der Regulation von Stimmung, Stressantwort und Neuroplastizität. Es steht in enger Wechselwirkung mit der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA-Achse) und beeinflusst damit die neuronale Stressverarbeitung, emotionale Stabilität und Motivation.
In Tier- und Humanstudien wurde gezeigt, dass Störungen im Endocannabinoid-System – etwa eine verminderte CB1-Rezeptor-Dichte oder reduzierte Spiegel des Endocannabinoids Anandamid (AEA) – mit depressiven Symptomen und einer erhöhten Stressvulnerabilität korrelieren. Diese Veränderungen deuten darauf hin, dass eine gezielte Modulation des ECS stimmungsstabilisierende Effekte haben könnte
(Hill MN et al., PNAS 2010; 107(21):9406–9411; McLaughlin RJ, Hill MN, Bambico FR et al., Eur Neuropsychopharmacol 2012; 22(9):664–671; Morena M et al., Neuropsychopharmacology 2015; 40(1): 92–115).
THC wirkt als partieller Agonist am CB1-Rezeptor und kann kurzfristig euphorisierende und anxiolytische Effekte auslösen. In höheren Dosen oder bei vulnerablen Personen besteht jedoch das Risiko für Dysphorie, Angst oder psychotische Symptome. Studien zeigen, dass THC – insbesondere in Kombination mit CBD – die emotionale Reizverarbeitung verändert und dadurch indirekt die Stimmung beeinflussen kann
(Bloomfield MAP, Hindocha C et al., The neuropsychopharmacology of cannabis: A review of human imaging studies, Pharmacology & Therapeutics 2019; 200: 132–167).
CBD besitzt kaum direkte Affinität zu CB1/CB2-Rezeptoren, entfaltet seine Wirkung jedoch über 5-HT1A-, TRPV- und PPAR-Rezeptoren. Präklinische Untersuchungen belegen antidepressive, anxiolytische und neuroprotektive Effekte, vermutlich vermittelt durch eine gesteigerte Hippocampus-Neurogenese und eine Modulation der Serotonin-Signalübertragung (Campos AC et al., Pharmacological Research 2016; 112: 119–127).
Auch FAAH-Inhibitoren, die den Abbau des Endocannabinoids Anandamid hemmen und dadurch die endogene Cannabinoid-Aktivität verstärken, zeigten in Tiermodellen antidepressive und stressreduzierende Effekte. Präklinische Studien belegen, dass die Blockade von FAAH – etwa durch Substanzen wie URB597 oder PF-3845 – die Stressresilienz erhöht, anxiolytische und antidepressive Verhaltensänderungen induziert und die neuronale Aktivität in stressrelevanten Hirnregionen normalisieren kann (Gobbi G et al., Proc Natl Acad Sci U S A 2005; 102(51):18620–18625; Moreira FA et al., Br J Pharmacol 2008; 153(2):303–315).
Zusammengefasst sprechen die bisherigen Befunde dafür, dass eine gezielte Modulation des Endocannabinoid-Systems – ob durch pflanzliche Cannabinoide wie CBD und THC oder durch pharmakologische FAAH-Hemmer – die Stressverarbeitung und emotionale Balance beeinflussen kann. Eine klinisch gesicherte antidepressive Wirkung ist bislang jedoch nicht nachgewiesen; der Mechanismus bleibt ein vielversprechendes, aber experimentelles Therapiekonzept.
Pilot- und Interventionsstudien
Bislang existieren nur sehr wenige klinische Untersuchungen zum Einsatz von Cannabinoiden bei Depressionen.
In einer Pilotstudie untersuchten Sarris et al. (2020, J Affect Disord 274: 1032–1045ein neuartiges Cannabinoid-Derivat bei Patient:innen mit depressiven und ängstlichen Symptomen. Es zeigten sich zwar Verbesserungen einzelner Stimmungsparameter und Angstscores, die Studie war jedoch klein, explorativ und methodisch limitiert – belastbare Wirksamkeitsnachweise lassen sich daraus nicht ableiten.
Experimentelle Laborstudien belegen, dass Cannabinoide emotionale und stressbezogene Prozesse beeinflussen können.
In bildgebenden Untersuchungen fand Bloomfield MAP et al. (2019, Pharmacology & Therapeutics 200: 132–167), dass THC und CBD die neuronale Verarbeitung emotionaler Reize verändern – insbesondere in limbischen und präfrontalen Hirnregionen, die für affektive Regulation relevant sind. Diese Effekte deuten auf eine mögliche, aber noch unklare stimmungsmodulierende Wirkung hin.
Ergänzend weist eine neuere Übersichtsarbeit darauf hin, dass CBD potenziell stimmungsstabilisierende und anxiolytische Eigenschaften entfalten kann: Khan R et al. (2020, The therapeutic role of Cannabidiol in mental health: a systematic review, Journal of Cannabis Research, BioMed Central).
Die Autor:innen fassen Daten aus Human- und Tierstudien zusammen und beschreiben Hinweise auf antidepressive, angstlösende und stressreduzierende Wirkungen von CBD. Allerdings betonen sie ebenfalls, dass kontrollierte klinische Studien bislang fehlen und die Evidenzlage als vorläufig einzustufen ist.
Beobachtungsdaten
Querschnitts- und Kohortenstudien liefern bislang ein widersprüchliches Bild zum Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und depressiven Symptomen.
In einer bevölkerungsbasierten Kohorte fanden Feingold D et al. (2017, J Affect Disord 218: 1–8), dass Cannabiskonsum bei Personen mit bestehenden depressiven Symptomen sowohl mit Symptomlinderung als auch mit höherer Depressionsschwere assoziiert sein kann – abhängig von Konsummuster, Häufigkeit und individueller Belastbarkeit.
Eine weitere große epidemiologische Untersuchung von Lev-Ran S et al. (2014, Addict Behav 39(12): 1803–1808) kam zu einem ähnlichen Ergebnis: Zwar zeigten gelegentliche Konsument:innen ein niedrigeres Risiko für depressive Symptome als Nichtkonsumierende, bei regelmäßigem oder starkem Konsum kehrte sich dieser Effekt jedoch um – mit erhöhtem Risiko für Major Depression.
Diese Beobachtungen legen nahe, dass der Zusammenhang nicht linear, sondern dosis- und kontextabhängig ist: Während niedrige oder intermittierende Dosen subjektiv als stimmungsaufhellend erlebt werden können, ist chronischer oder intensiver Konsum mit einer höheren Depressionsinzidenz und geringerer Stressresilienz assoziiert.
Systematische Reviews
Mehrere systematische Übersichtsarbeiten haben den Stand der Forschung zu Cannabisarzneien bei Depressionen kritisch bewertet – mit weitgehend übereinstimmendem Ergebnis:
Es gibt bislang keine belastbare Evidenz für eine antidepressive Wirksamkeit von Cannabinoiden bei primären depressiven Störungen.
Die umfangreichste Analyse stammt von Black N et al. (2019, Lancet Psychiatry 6(12): 995–1010). In dieser systematischen Review und Meta-Analyse wurden über 80 Studien zu Cannabis und Cannabinoiden bei verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen (Depression, Angst, PTSD, Psychose) ausgewertet.
Das Ergebnis: Für Depressionen existiert keine signifikante Wirksamkeit, weder für THC-haltige Präparate noch für CBD oder synthetische Cannabinoide.
Zudem wiesen die Autor:innen auf methodische Schwächen der Primärstudien hin – etwa kleine Stichproben, fehlende Placebokontrolle und heterogene Diagnostikkriterien.
Diese Einschätzung wird durch die systematische Übersichtsarbeit von Hoch E et al. (2019, Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 269(1): 87–105) bestätigt.
Die Autor:innen untersuchten die Evidenz für medizinisches Cannabis bei verschiedenen psychischen Störungen und fanden auch hier keine überzeugenden Wirksamkeitsnachweise für depressive Erkrankungen. Sie betonen, dass die meisten verfügbaren Daten aus Beobachtungsstudien stammen, während randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) fast vollständig fehlen. Zudem seien viele Arbeiten auf sekundäre Symptome (z. B. Angst, Schlafstörungen, Appetitverlust) fokussiert und nicht auf die primäre depressive Symptomatik.
Datenlage:
Der aktuelle Forschungsstand zeigt, dass Cannabis keine etablierte Therapie bei Depressionen ist. Präklinische Befunde weisen zwar auf ein potenzielles antidepressives Wirkprinzip über das Endocannabinoid-System hin, doch klinisch bleibt die Evidenz schwach. CBD könnte künftig als Ergänzungstherapie bei Angst- und Stresssymptomatik Bedeutung erlangen, wohingegen THC bei vulnerablen Personen Risiken birgt. Bis belastbare Langzeitdaten vorliegen, sollte der Einsatz von Cannabisarzneien bei Depressionen stets individuell, unter enger ärztlicher Kontrolle und im Rahmen eines Off-Label-Use erfolgen.