Was ist Huntington?
Die Huntington-Krankheit (Chorea Huntington) ist eine seltene, aber schwerwiegende neurodegenerative Erkrankung, die durch eine genetische Mutation im Huntingtin-Gen (HTT) verursacht wird. Charakteristisch ist eine Verlängerung von sogenannten CAG-Repeats, die zu einer fehlerhaften Produktion des Huntingtin-Proteins führt. Dieses Protein lagert sich in Nervenzellen an und verursacht langfristig Schäden, insbesondere in den Basalganglien, die für Bewegungssteuerung und kognitive Funktionen entscheidend sind [1].
Die Erkrankung tritt meist zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr auf und führt zu einem schleichenden, aber fortschreitenden Verlust motorischer, kognitiver und psychischer Fähigkeiten. Typisch sind unwillkürliche Bewegungen (Chorea), Muskelsteifigkeit, Probleme bei Koordination und Gleichgewicht sowie Veränderungen der Sprache. Hinzu kommen häufig kognitive Defizite, die bis hin zu einer Demenz reichen können, sowie psychische Symptome wie Depressionen, Reizbarkeit oder Angststörungen [2].
Therapeutisch gibt es bislang keine Möglichkeit, die Erkrankung zu heilen oder ihr Fortschreiten wesentlich zu verlangsamen. Aktuelle Behandlungsansätze konzentrieren sich auf die Linderung von Symptomen. Dazu gehören Medikamente wie Tetrabenazin oder Deutetrabenazin zur Reduktion unwillkürlicher Bewegungen, Neuroleptika zur Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten sowie Antidepressiva und Psychotherapie zur Stabilisierung der psychischen Gesundheit [3]. Ergänzend spielen Physiotherapie, Ergotherapie und logopädische Maßnahmen eine wichtige Rolle im Alltag der Betroffenen, um die Lebensqualität möglichst lange zu erhalten [4].
Warum könnte Cannabis bei Huntington helfen?
Das Endocannabinoid-System spielt eine zentrale Rolle in den Basalganglien und im Striatum – genau den Hirnarealen, die bei Huntington früh und besonders stark betroffen sind. CB1-Rezeptoren sind dort in hoher Dichte vorhanden und modulieren die Freisetzung von Neurotransmittern wie GABA und Glutamat, die für die Bewegungssteuerung entscheidend sind [5]. Studien zeigen, dass es bei Huntington-Patient:innen zu einer Dysregulation dieses Systems kommt, was nahelegt, dass Cannabinoide hier therapeutisches Potenzial entfalten könnten.
Cannabinoide wie THC, CBD und CBG werden in präklinischen Studien als potenziell neuroprotektiv beschrieben. Sie könnten dazu beitragen, die toxischen Effekte des mutierten Huntingtin-Proteins abzumildern, indem sie Entzündungsprozesse reduzieren, antioxidative Mechanismen aktivieren und die neuronale Signalweiterleitung stabilisieren [6]. Besonders CBD wird aufgrund seiner nicht-psychoaktiven Eigenschaften und seiner antiinflammatorischen Effekte als vielversprechender Kandidat angesehen.
Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die Beeinflussung von Glutamat-Exzitotoxizität, die bei Huntington eine wesentliche Rolle im fortschreitenden Nervenzelluntergang spielt. Überaktivität von Glutamat-Rezeptoren führt zu einer Überlastung der Nervenzellen durch Kalzium und trägt massiv zur Neurodegeneration bei. Cannabinoide, die die Freisetzung von Glutamat hemmen, könnten hier schützend wirken [7].
Darüber hinaus deuten experimentelle Befunde darauf hin, dass Cannabinoide oxidativen Stress reduzieren können, indem sie freie Radikale neutralisieren und mitochondriale Schutzmechanismen unterstützen. Da oxidativer Stress als ein zentraler Treiber der Huntington-Pathogenese gilt, bietet dieser Mechanismus einen weiteren Ansatzpunkt für Cannabis-basierte Therapien [8].
Welche Symptome können beeinflusst werden?
Chorea (unwillkürliche Bewegungen)
Ein zentrales Symptom der Huntington-Krankheit sind die typischen unwillkürlichen Bewegungen (Chorea). In einer randomisierten Cross-over-Studie mit Nabilon (THC-Derivat) konnte eine klinisch relevante Reduktion der Chorea-Schwere gezeigt werden [11]. Auch Pilotstudien mit Nabiximols (THC/CBD-Spray) berichteten über Verbesserungen motorischer Symptome, wenngleich die Ergebnisse heterogen blieben [12]. Präklinische Daten legen nahe, dass Cannabinoide über CB1-Modulation im Striatum die Bewegungssteuerung günstig beeinflussen [13].
Muskelsteifigkeit und motorische Koordination
Neben Hyperkinesien entwickeln viele Betroffene Rigor und Koordinationsstörungen. Tiermodelle weisen darauf hin, dass Cannabinoide eine Reduktion der Muskelsteifigkeit fördern und die motorische Leistungsfähigkeit verbessern können [13][14]. Erste klinische Beobachtungen deuten auf eine mögliche Verbesserung der Bewegungskoordination unter THC-haltigen Präparaten hin [12].
Stimmungsschwankungen, Angst und Depression
Psychiatrische Symptome wie Depression, Reizbarkeit und Angstzustände gehören zu den belastendsten Aspekten der Erkrankung. Vor allem CBD wird aufgrund seiner angstlösenden und antidepressiven Eigenschaften untersucht [14]. In Fallberichten wurden positive Effekte auf Stimmung und Stressverarbeitung dokumentiert, wobei THC in höheren Dosen gegenteilige Wirkungen wie Angst oder Dysphorie hervorrufen kann [12].
Schlafstörungen und Lebensqualität
Viele Huntington-Patient:innen leiden unter gestörtem Schlaf, Insomnie und Tagesmüdigkeit. Klinische Pilotstudien und Fallberichte weisen darauf hin, dass THC- und CBD-haltige Präparate die Schlafqualität verbessern und dadurch die Lebensqualität erhöhen könnten [12][15]. Dennoch sind diese Ergebnisse bislang experimentell und nicht durch größere kontrollierte Studien abgesichert.
Risiken und Grenzen
Psychoaktive Effekte von THC bei kognitiven Einschränkungen
Gerade bei bestehender kognitiver Beeinträchtigung kann THC Verwirrtheit, Angst, Halluzinationen oder Sedierung verstärken. Systematische Übersichten zeigen, dass solche zentralnervösen Nebenwirkungen unter THC-haltigen Präparaten häufiger auftreten – das Risiko nimmt mit Dosis und Empfindlichkeit zu [16]. Für Huntington bedeutet das: vorsichtiges Titrationsschema („start low, go slow“), engmaschige Kontrolle und möglichst abendliche Gabe bei THC-Anteilen.
Wechselwirkungen mit Standardmedikation (z. B. Tetrabenazin, Antipsychotika)
Cannabinoide können CYP450-Enzyme hemmen oder als Substrate konkurrieren; dadurch sind Pharmakokinetik-Interaktionen mit häufig eingesetzten Huntington-Medikamenten möglich (z. B. Tetrabenazin/Deutetrabenazin, Antipsychotika, Antidepressiva). Zusätzlich drohen additive zentrale Effekte (Sedierung, orthostatische Hypotonie) bei Kombination mit sedierenden Substanzen [17][18]. Eine ärztliche Überwachung (inkl. EKG/Blutdruck, ggf. Spiegelkontrollen) ist angeraten.
Begrenzte Evidenz, kleine Fallzahlen und heterogene Studienergebnisse
Die Human-Datenlage zu Huntington ist weiterhin dünn: Die verfügbaren Studien sind klein, oft Pilot-/Cross-over-Designs, mit unterschiedlichen Präparaten (THC-Analog, THC/CBD-Spray), Dosierungen und Endpunkten – entsprechend heterogen fallen die Resultate aus (vgl. [11][12]). Reviews betonen daher, dass Cannabinoide derzeit keine etablierte Therapie darstellen, sondern allenfalls additiv und individuell erprobt werden sollten [6][7][16].
Verwendete Quellen:
[1] Di Marzo, V., Piscitelli, F. (2015). The endocannabinoid system and its modulation by phytocannabinoids. Neurotherapeutics.
[2] Fernández-Ruiz, J. et al. (2011). The endocannabinoid system as a target for the treatment of neurodegenerative diseases. Br J Pharmacol.
[3] Sagredo, O. et al. (2011). Neuroprotective effects of phytocannabinoid-based medicines in experimental models of Huntington’s disease. J Neurosci Res.
[4] Lastres-Becker, I. et al. (2003). Cannabinoids provide neuroprotection against 3-nitropropionic acid toxicity in vivo and in vitro: relevance for Huntington’s disease. J Neurosci.
[5] Valdeolivas, S. et al. (2012). Beneficial effects of the non-psychotropic phytocannabinoid cannabidiol on Huntington’s disease-like phenotype in R6/2 mice. Neurotherapeutics.
[6] López-Sendón Moreno, J.L. et al. (2016). A double-blind, randomized, cross-over, placebo-controlled clinical trial with Sativex in Huntington’s disease. J Neurol.
[7] Consroe, P. et al. (1991). Open pilot study of cannabidiol treatment in Huntington’s disease. Pharmacology Biochemistry and Behavior.
[8] Glass, M., Dragunow, M., Faull, R.L. (2000). The pattern of neurodegeneration in Huntington’s disease: a comparative study of cannabinoid, dopamine, adenosine and GABA receptors in the human basal ganglia. Neuroscience.
[9] Blázquez, C. et al. (2011). Cannabinoids inhibit the vascular endothelial growth factor pathway in gliomas. Cancer Research. (zur Darstellung neuroprotektiver Mechanismen auch bei HD relevant)
[10] Pazos, M.R. et al. (2008). Mechanisms of cannabidiol neuroprotection in hypoxic-ischemic newborn pigs: role of 5-HT1A and CB2 receptors. Neuropharmacology.
[11] Curtis, A. et al. (2009). A pilot study using nabilone for symptomatic treatment in Huntington’s disease. Movement Disorders.
[12] Riva, N. et al. (2019). Efficacy and tolerability of cannabis-based medicine in Huntington’s disease: an open-label pilot study. J Neurol Sci.
[13] Müller-Vahl, K.R. et al. (1999). Cannabinoids: possible role in Huntington’s disease progression and therapy. Pharmacopsychiatry.
[14] Sieradzan, K.A. et al. (2001). Cannabinoids for treatment of dystonia in Huntington’s disease. Lancet.
[15] van der Stelt, M., Di Marzo, V. (2003). The endocannabinoid system in the basal ganglia and in the mesolimbic reward system: implications for neurological and psychiatric disorders. Eur J Pharmacol.
[16] Whiting, P.F. et al. (2015). Cannabinoids for medical use: a systematic review and meta-analysis. JAMA.
[17] Stout, S.M., Cimino, N.M. (2014). Exogenous cannabinoids as substrates, inhibitors, and inducers of human drug-metabolizing enzymes. Drug Metabolism Reviews.
[18] Zendulka, O. et al. (2016). Cannabinoids and cytochrome P450 interactions. Current Drug Metabolism.