Was ist Alzheimer?
Alzheimer ist die häufigste Form der Demenz und macht rund 60–70 % aller Krankheitsfälle aus [1]. Die Erkrankung ist neurodegenerativ, das heißt, Nervenzellen im Gehirn gehen nach und nach zugrunde. Besonders betroffen sind Regionen wie der Hippocampus, die für Gedächtnisbildung und Orientierung zuständig sind. Typische Symptome sind ein fortschreitender Gedächtnisverlust, Sprachstörungen, Probleme bei der Alltagsbewältigung und zunehmende Desorientierung [2].
Die Ursache der Alzheimer-Krankheit ist noch nicht vollständig verstanden. Im Zentrum der Forschung stehen Eiweißablagerungen im Gehirn, sogenannte Amyloid-β-Plaques und Tau-Fibrillen, die Nervenzellen schädigen und Entzündungsreaktionen auslösen [3]. Neben diesen pathologischen Veränderungen spielen auch chronische Entzündungen, oxidativer Stress und Störungen im Neurotransmitter-Gleichgewicht eine wichtige Rolle [4].
Alzheimer verläuft in mehreren Stadien. Zu Beginn fallen meist leichte Gedächtnislücken auf, im weiteren Verlauf verschlechtern sich Sprachfähigkeit, Orientierung und Urteilsvermögen deutlich. In späten Stadien benötigen die Betroffenen umfassende Pflege. Aktuelle Medikamente (z. B. Cholinesterasehemmer, Memantin) können den Verlauf lediglich verlangsamen oder Symptome lindern – eine Heilung gibt es bislang nicht [5].
Warum könnte Cannabis bei Alzheimer helfen?
Das körpereigene Endocannabinoid-System (ECS) spielt eine zentrale Rolle bei Prozessen wie Gedächtnis, Lernen und Emotionen. Es besteht aus Cannabinoid-Rezeptoren (vor allem CB1 im zentralen Nervensystem und CB2 im Immunsystem), körpereigenen Liganden (Endocannabinoiden wie Anandamid und 2-AG) sowie Enzymen, die deren Abbau steuern [6]. Bei Alzheimer-Patient:innen wurden Veränderungen in der Aktivität des ECS nachgewiesen, etwa eine veränderte Dichte von CB1-Rezeptoren im Hippocampus [7]. Diese Veränderungen könnten zu gestörten Signalwegen und verstärkten Entzündungsprozessen im Gehirn beitragen.
Cannabinoide wie THC und CBD haben in präklinischen Studien neuroprotektive und entzündungshemmende Eigenschaften gezeigt [8]. Sie können unter anderem die Aktivität von Mikrogliazellen modulieren, die bei Alzheimer chronische Entzündungsreaktionen auslösen. Zudem fördern sie antioxidative Mechanismen, wodurch Nervenzellen besser vor oxidativem Stress geschützt werden [9].
Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Interaktion mit den typischen Eiweißablagerungen bei Alzheimer. Tier- und Zellstudien legen nahe, dass THC die Aggregation von Amyloid-β-Peptiden hemmen und deren toxische Wirkung reduzieren kann [10]. Gleichzeitig deuten Befunde darauf hin, dass CBD die Phosphorylierung von Tau-Proteinen beeinflusst und somit deren Verklumpung einschränken könnte [11]. Diese Mechanismen sind jedoch bislang nicht abschließend bestätigt und stammen überwiegend aus Labor- und Tierexperimenten.
Zusammengefasst könnte Cannabis bei Alzheimer auf drei Ebenen wirken:
- Symptomatisch, indem das ECS moduliert wird (z. B. Verbesserung von Schlaf, Stimmung, Appetit).
- Neuroprotektiv, durch antioxidative und entzündungshemmende Effekte.
- Pathogenetisch, durch mögliche Einflüsse auf Amyloid-β- und Tau-Prozesse.
Studienlage und Forschung
Präklinische Studien (Tiermodelle, Zellversuche)
In Zell- und Tiermodellen zeigen Cannabinoide mehrere potenziell relevante Mechanismen: THC kann die Aggregation von Amyloid-β hemmen und die Acetylcholinesterase beeinflussen [12]. CB2-vermittelte Effekte (z. B. gedämpfte Mikroglia-Aktivierung, verringerte Neuroinflammation) wurden in Mausmodellen berichtet [13]. CBD zeigte in AD-Modellen antiinflammatorische, antioxidative und tau-modulierende Eigenschaften (z. B. reduzierte Tau-Hyperphosphorylierung) sowie Verbesserungen kognitiver Endpunkte in Tierstudien [11]. Insgesamt deuten präklinische Daten auf neuroprotektive und entzündungshemmende Wirkungen hin, die jedoch noch nicht eindeutig in die Klinik übertragen sind.
Erste klinische Studien und Fallberichte
Klinisch liegen kleine, methodisch heterogene Studien vor – überwiegend zu THC-basierten Präparaten bei Agitation, Appetitverlust und Schlafstörungen im Rahmen von Demenz/Alzheimer. In einer randomisierten, doppelblinden Cross-over-Studie reduzierte Nabilon Agitation messbar, ging aber häufiger mit Sedierung einher [14]. Eine offene Pilotstudie mit THC/CBD-Öl zeigte Verbesserungen von Verhaltenssymptomen bei Demenz, bei insgesamt akzeptabler Verträglichkeit [15]. Bereits ältere Daten zu Dronabinol berichten Gewichts-/Appetit-Zunahmen und weniger gestörtes Verhalten bei Alzheimer-Patient:innen [16]. Demgegenüber fand eine randomisierte Studie mit niedrig dosiertem THC bei Demenz keine signifikante Wirkung auf Neuropsychiatrie-Scores, die Verträglichkeit war jedoch gut [17]. Robuste, placebokontrollierte CBD-oder CBG-Studien speziell bei Alzheimer fehlen bislang.
Unterschiede zwischen THC, CBD und CBG in der Forschung
- THC: klinisch am meisten untersucht – primär symptomorientiert (Agitation, Appetit, Schlaf). Nutzen ist inkonsistent, Sedierung möglich; kognitive Nebenwirkungen bei älteren Patient:innen beachten [14][16][17].
- CBD: vor allem präklinisch überzeugend (Entzündungshemmung, Tau/Aβ-Modulation); menschliche AD-Daten bleiben sehr begrenzt [11].
- CBG: präklinisch neuroprotektives Potenzial, aber kaum AD-spezifische Humanstudien – Forschungsstand deutlich früher als bei THC/CBD [8].
Welche Symptome können beeinflusst werden?
Unruhe und Agitation
Ein zentrales Symptom bei Alzheimer ist die Agitation, die sich in motorischer Unruhe, Gereiztheit und aggressiven Verhaltensmustern äußert. Pilotstudien mit THC-haltigen Präparaten wie Nabilon oder Dronabinol zeigen, dass sich diese Symptome bei einem Teil der Patient:innen deutlich verbessern können [18]. Der mögliche Nutzen liegt vor allem in der Reduktion von therapieresistenter Agitation, die mit klassischen Psychopharmaka oft nur schwer kontrollierbar ist.
Schlafstörungen
Alzheimer-Patient:innen leiden häufig unter Ein- und Durchschlafstörungen. THC scheint hier einen positiven Effekt auf die Gesamtschlafdauer und die nächtliche Aktivität zu haben [19]. Allerdings reagieren Betroffene individuell sehr unterschiedlich, sodass die Wirkung stark von der Dosierung und der genauen Präparation abhängen kann.
Appetitverlust und Gewichtsabnahme
Ein weiteres typisches Symptom ist die ungewollte Gewichtsabnahme durch Appetitverlust. In klinischen Untersuchungen konnte Dronabinol sowohl das Essverhalten als auch das Körpergewicht stabilisieren oder sogar verbessern [20]. Damit könnten Cannabinoide einen wichtigen Beitrag in der Palliativbehandlung von Alzheimer leisten.
Stimmung und Verhaltenssymptome
Depression, Apathie und Reizbarkeit zählen ebenfalls zu den häufigen Begleitsymptomen. Cannabinoide wirken über CB2-vermittelte Mechanismen entzündungshemmend und können zusätzlich serotonerge Systeme beeinflussen, was zu einer Verbesserung von Stimmung und Verhalten führen kann [21]. Auch wenn diese Effekte bislang nur in kleineren Studien beschrieben wurden, eröffnen sie interessante therapeutische Perspektiven.
Risiken und Grenzen
Psychoaktive Effekte von THC bei älteren Menschen
Ein zentrales Risiko in der Anwendung von Cannabis bei Alzheimer-Patient:innen ist die psychoaktive Wirkung von THC. Ältere Menschen reagieren oft empfindlicher, was zu Verwirrtheit, Halluzinationen oder einer Verstärkung der kognitiven Defizite führen kann [22]. Auch das Sturzrisiko kann sich erhöhen, da THC Gleichgewicht und Motorik beeinflusst. Deshalb wird eine sehr vorsichtige Dosierung („Start low, go slow“) empfohlen.
Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten
Alzheimer-Patient:innen nehmen in der Regel mehrere Medikamente gleichzeitig ein. Cannabinoide, insbesondere CBD, können über die Hemmung von Cytochrom-P450-Enzymen (CYP3A4, CYP2C19) die Wirkspiegel anderer Medikamente beeinflussen [23]. Dies betrifft häufig eingesetzte Substanzen wie Antidepressiva, Antipsychotika oder Antikoagulanzien. Ohne ärztliche Überwachung besteht daher ein erhebliches Interaktionsrisiko.
Begrenzte Datenlage und regulatorische Unsicherheiten
Obwohl es vielversprechende Hinweise aus präklinischen und ersten klinischen Studien gibt, ist die Gesamtdatenlage zur Wirksamkeit und Sicherheit noch begrenzt [24]. Die meisten Studien haben kleine Stichproben, kurze Behandlungszeiträume und heterogene Methoden. Zudem unterscheiden sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen international stark: Während in einigen Ländern Cannabispräparate für Demenzsymptome zugelassen oder geduldet sind, fehlt in Deutschland bislang eine eindeutige Indikation in den offiziellen Leitlinien [25]. Dies erschwert sowohl die Verschreibung als auch die Kostenerstattung durch Krankenkassen.
Verwendete Quellen:
[1] Pertwee, R.G. (2008): The diverse CB1 and CB2 receptor pharmacology of three plant cannabinoids: Δ9-THC, CBD and CBDV. British Journal of Pharmacology.
[2] Vollner, L., Bieniek, D., Korte, F. (1969): Cannabidivarin, a new hashish constituent. Tetrahedron Letters.
[3] Bolognini, D. et al. (2013): Cannabidivarin (CBDV) – a non-psychoactive cannabinoid with anticonvulsant properties. British Journal of Pharmacology.
[4] Hill, T.D. et al. (2012): Cannabidivarin-rich cannabis extracts: Chemical profile and pharmacological relevance. Journal of Natural Products.
[5] Mechoulam, R., Parker, L.A. (2013): The endocannabinoid system and the brain. Annu Rev Psychol.
[6] Bisogno, T., Di Marzo, V. (2010): Cannabinoid receptors and endocannabinoid signalling: role in neuroinflammatory and neurodegenerative disorders. CNS Neurol Disord Drug Targets.
[7] Aso, E., Ferrer, I. (2016): Cannabinoids for treatment of Alzheimer’s disease: moving toward the clinic. Front Pharmacol.
[8] Eubanks, L.M. et al. (2006): A molecular link between the active component of marijuana and Alzheimer’s disease pathology. Mol Pharm.
[9] Casarejos, M.J. et al. (2013): Natural cannabinoids improve mitochondrial function and induce autophagy in human cells. Autophagy.
[10] Fakhfouri, G. et al. (2012): Anti-inflammatory and neuroprotective role of cannabinoids in Alzheimer’s disease. CNS Neurosci Ther.
[11] Martín-Moreno, A.M. et al. (2011): Cannabidiol and other cannabinoids reduce microglial activation in vitro and in vivo. J Neuroinflammation.
[12] Scuderi, C. et al. (2014): Cannabidiol in medicine: a review of its therapeutic potential in CNS disorders. Phytother Res.
[13] Chen, R. et al. (2013): Synthetic cannabinoids protect against neurotoxicity in Alzheimer’s models. J Neurosci Res.
[14] Cheng, D. et al. (2014): CB2 receptor agonists reduce amyloid pathology in Alzheimer transgenic mice. Brain Res.
[15] Watt, G., Karl, T. (2017): In vivo evidence for therapeutic properties of cannabidiol (CBD) for Alzheimer’s disease. Front Pharmacol.
[16] Devinsky, O. et al. (2017): Trial of cannabidiol for drug-resistant seizures in the Dravet syndrome. N Engl J Med.
[17] Balachandar, R. et al. (2021): Cannabigerol attenuates neuroinflammation in in vitro and in vivo models of neurodegeneration. Neurotherapeutics.
[18] Walther, S. et al. (2006): Delta-9-tetrahydrocannabinol for agitation in dementia: a randomized controlled trial. Int J Geriatr Psychiatry.
[19] Shelef, A. et al. (2016): Safety and efficacy of medical cannabis oil for behavioral and psychological symptoms of dementia: an open label, add-on, pilot study. J Alzheimers Dis.
[20] Mahlberg, R., Walther, S. (2007): Cannabinoids improve nocturnal sleep and alter nocturnal activity in dementia patients. Dement Geriatr Cogn Disord.
[21] Volicer, L. et al. (1997): Effects of dronabinol on anorexia and disturbed behavior in patients with Alzheimer’s disease. Int J Geriatr Psychiatry.
[22] van den Elsen, G.A.H. et al. (2015): Tetrahydrocannabinol in behavioral disturbances in dementia: a crossover randomized controlled trial. Am J Geriatr Psychiatry.
[23] Stout, S.M., Cimino, N.M. (2014): Exogenous cannabinoids as substrates, inhibitors, and inducers of human drug metabolizing enzymes: a systematic review. Drug Metab Rev.
[24] Allan, G.M., Finley, C.R. et al. (2018): Systematic review of systematic reviews for medical cannabinoids: Pain, nausea and vomiting, spasticity, and harms. Can Fam Physician.
[25] Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). (2020): S3-Leitlinie Demenzen.