Suchtmedizin zwischen Rückfall und Innovation
Alkohol- und Opioidabhängigkeit zählen zu den größten Herausforderungen der globalen Gesundheit. Eine umfassende Analyse im Lancet Psychiatry (Global Burden of Disease Study 2016, publiziert 2018) zeigt, dass Substanzgebrauchsstörungen weltweit erheblich zur Krankheitslast beitragen – gemessen in Disability-Adjusted Life Years (DALYs) – und sowohl Sterblichkeit als auch Invalidität maßgeblich beeinflussen.
Trotz etablierter Entzugs- und Substitutionsprogramme (z. B. Methadon oder Buprenorphin) bleiben Rückfälle häufig. Psychosoziale Belastungen, chronische Schmerzen und Probleme bei der Therapietreue erschweren eine langfristige Abstinenz.
In dieser Lücke rückt zunehmend medizinisches Cannabis in den Fokus der Diskussion. Erste präklinische und klinische Untersuchungen deuten darauf hin, dass CBD angstlösende und anti-craving Effekte haben könnte, während niedrig dosiertes THC zur Beruhigung und Schlafregulation beitragen kann (Prud’homme et al., 2015; Gonzalez-Cuevas et al., 2018; Viudez-Martínez et al., 2018). Diese Ergebnisse sind noch nicht ausreichend durch große randomisierte Studien abgesichert, legen jedoch nahe, dass Cannabinoide in multimodale Suchtprogramme integriert werden könnten.
Das Endocannabinoid-System in der Suchtmedizin
Das Endocannabinoid-System (ECS) ist ein komplexes Netzwerk von Rezeptoren, endogenen Liganden und Enzymen, das wesentliche Funktionen wie Schmerz, Emotionen, Motivation und Gedächtnis moduliert. Eine Dysregulation dieses Systems wird mit Substanzgebrauchsstörungen in Verbindung gebracht (Parsons & Hurd, 2015).
CB1-Rezeptoren im Gehirn beeinflussen die dopaminerge Belohnungsverarbeitung, CB2-Rezeptoren regulieren Immun- und Stressantworten. Endocannabinoide wie Anandamid wirken meist dämpfend auf Übererregung, können aber je nach Kontext auch disinhibitorische Effekte haben (Katona & Freund, 2012).
Bei Alkohol- und Opioidabhängigkeit wurden Veränderungen in der Endocannabinoid-Signalisierung beschrieben, die mit Craving und Rückfallrisiko assoziiert sind (Parsons & Hurd, 2015).
Cannabinoide wie THC und CBD greifen in dieses System ein. THC aktiviert CB1, was therapeutische (Schmerz, Entspannung) wie riskante (Rausch, Abhängigkeit) Effekte haben kann. CBD wirkt über verschiedene Mechanismen (u. a. 5-HT1A, TRPV1) anxiolytisch und stressmildernd, möglicherweise auch über eine Beeinflussung des FAAH-Enzyms (Morena et al., 2018).
Die Forschung betrachtet das ECS deshalb als möglichen Ansatzpunkt für neue Therapien in der Suchtmedizin.
Einsatz bei Alkoholabhängigkeit
Alkoholabhängigkeit gehört zu den häufigsten Suchterkrankungen überhaupt. Nach Entzugsphasen leiden viele Patient:innen unter Schlaflosigkeit, Angst, Reizbarkeit und starkem Verlangen nach Alkohol (Craving) – Faktoren, die Rückfälle begünstigen. Genau hier wird Cannabis als möglicher ergänzender Therapiebaustein diskutiert: Vor allem Cannabidiol (CBD) zeigt in Studien vielversprechende Effekte, während Δ⁹-Tetrahydrocannabinol (THC) bislang nur theoretisch und in Einzelfällen erwogen wird.
CBD – der „nicht berauschende“ Wirkstoff mit Evidenz
CBD wirkt nicht psychoaktiv, beeinflusst aber zentrale Neurotransmittersysteme wie Serotonin, GABA und Glutamat. Mehrere Studien belegen, dass CBD anxiolytische, neuroprotektive und antientzündliche Effekte entfalten kann – Eigenschaften, die für den Alkoholentzug besonders relevant sind.
In einer systematischen Übersichtsarbeit analysierten Prud’homme et al. (2015, Substance Abuse) die damalige Datenlage. Ergebnis: CBD reduzierte in präklinischen Modellen oxidativen Stress, wirkte neuroprotektiv bei alkoholgeschädigtem Hirngewebe und dämpfte das Craving.
Eine präklinische Studie aus Barcelona zeigte, dass CBD bei Mäusen das Rückfallverhalten nach Alkoholentzug signifikant reduzierte und entzündungshemmend auf das Belohnungssystem wirkte (Viudez-Martínez et al., 2018, Addiction Biology).
Eine weitere Untersuchung belegte, dass CBD das „Belohnungsgedächtnis“ für Alkohol blockieren kann und dadurch Craving-Spitzen abschwächt (Gonzalez-Cuevas et al., 2018, Neuropsychopharmacology).
Damit ist CBD ein vielversprechender Kandidat für die suchtmedizinische Begleittherapie – wenn auch bisher überwiegend durch präklinische Studien gestützt.
THC – hypothetisch und mit Vorsicht
Im Gegensatz zu CBD gibt es bislang keine belastbaren klinischen Studien, die den Einsatz von THC bei Alkoholabhängigkeit systematisch untersuchen. Theoretisch könnte niedrig dosiertes THC bei ausgewählten Patient:innen Schlafstörungen und Anspannung lindern, doch diese Einschätzung basiert auf Einzelfällen und klinischer Erfahrung, nicht auf Primärdaten.
Deshalb sollte THC – wenn überhaupt – nur unter streng ärztlicher Kontrolle in Betracht gezogen werden, mit klarer Risiko-Nutzen-Abwägung und bevorzugt in Kombination mit CBD.
Praxisrelevanz
In der klinischen Realität kommt medizinisches Cannabis aktuell vor allem bei Patient:innen mit therapieresistenten Entzugssymptomen oder schweren Schlaf- und Angststörungen infrage. Es ersetzt keine klassische Entzugstherapie, sondern kann – vorzugsweise CBD-basiert – stabilisierend wirken. Psychotherapie und ärztliches Monitoring bleiben unverzichtbar.
Einsatz als Exit-Strategie bei Opioidabhängigkeit
Opioidabhängigkeit ist häufig verbunden mit chronischen Schmerzen, Schlafstörungen, Angst und einer hohen Rückfallgefahr. In diesem Zusammenhang wird Cannabis in der Medizin als ergänzende Option diskutiert – nicht, um etablierte Substitutionsprogramme wie Methadon oder Buprenorphin zu ersetzen, sondern um Entzugssymptome abzumildern und den Bedarf an Opioiden zu reduzieren.
Die bisherige Evidenz stammt überwiegend aus Beobachtungsstudien und Patient:innenbefragungen. Sie zeigt Zusammenhänge, jedoch keine gesicherte Kausalität.
Was Studien nahelegen
Weniger Opioide bei chronischen Schmerzen:
Mehrere Kohorten- und Befragungsstudien zeigen, dass Patient:innen unter medizinischem Cannabis ihren Opioidverbrauch teils deutlich senken konnten – verbunden mit verbesserter Lebensqualität (Boehnke et al., 2016; Vigil et al., 2017; Lucas & Walsh, 2017).Effekte auf Bevölkerungsebene:
Eine Analyse aus den USA zeigte, dass Bundesstaaten mit medizinischen Cannabisgesetzen niedrigere Raten tödlicher Opioid-Überdosierungen verzeichneten (Bachhuber et al., 2014). Allerdings handelt es sich um ökologische Daten, die nicht direkt auf individuelle Patient:innen übertragbar sind.Mögliche Mechanismen:
Cannabinoide wirken über das Endocannabinoid-System sowohl auf die Schmerzverarbeitung als auch auf Belohnungsnetzwerke. Klinisch wird beobachtet, dass CBD-betonte oder ausgewogene THC/CBD-Präparate Schlafqualität verbessern, Angst reduzieren und teils Entzugssymptome lindern – Faktoren, die eine Opioidreduktion unterstützen könnten.
Klinische Einordnung
Für wen geeignet?
Vor allem für Patient:innen mit chronischen Schmerzen, unzureichender Analgesie oder belastenden Nebenwirkungen klassischer Opioidtherapien – im Rahmen eines multimodalen Programms.Wie einsetzen?
Ärztlich kontrolliert und schrittweise titriert („Start low, go slow“), bevorzugt mit CBD-reichen oder ausgewogenen THC/CBD-Präparaten. Notwendig sind engmaschiges Monitoring von Stimmung, Schlaf und Konsummustern.Was vermeiden?
Unkontrollierte Selbstmedikation, hochdosiertes THC ohne ärztliche Begleitung und die Vorstellung einer 1:1-Substitution von Opioiden durch Cannabis. Ziel ist Opioid-Sparing, nicht Ersatz.
Risiken, Grenzen und mögliche Fehlanwendungen
So vielversprechend die Forschungsergebnisse zu Cannabis in der Suchttherapie auch erscheinen – der Einsatz ist nicht frei von Risiken. Besonders wichtig ist die Differenzierung zwischen therapeutischem Nutzen und potenzieller Fehlanwendung, da Cannabis selbst ein Abhängigkeitspotenzial besitzt.
Cannabis-Use-Disorder (CUD)
Cannabis kann selbst zur Entwicklung einer Abhängigkeit führen. Epidemiologische Daten aus den USA zeigen, dass etwa 9 % der Konsument:innen eine Abhängigkeit entwickeln; bei täglichem Gebrauch steigt das Risiko auf bis zu 25 % (Hasin et al., 2016)
Gerade in der Suchtmedizin muss deshalb sorgfältig geprüft werden, ob Cannabis wirklich therapeutisch wirkt oder eine neue Abhängigkeit etabliert.
Psychische Nebenwirkungen
Hochdosiertes THC kann Angstzustände, paranoide Gedanken oder psychotische Episoden auslösen. Besonders gefährdet sind Patient:innen mit psychiatrischer Vorerkrankung wie Schizophrenie oder bipolaren Störungen (Di Forti et al., 2019).
Toleranzentwicklung und Dosiseskalation
Wie bei Opioiden besteht auch bei Cannabis die Gefahr einer Toleranzentwicklung: Wirkungen auf Schlaf, Angst oder Schmerz können mit der Zeit nachlassen. Dies verleitet manche Patient:innen, die Dosis eigenständig zu erhöhen – ein Risiko insbesondere bei THC-reichen Präparaten (Volkow et al., 2014).
Wechselwirkungen mit anderen Substanzen
Cannabinoide werden über Cytochrom-P450-Enzyme verstoffwechselt. Dadurch können sie die Wirkung anderer Medikamente beeinflussen – etwa Antidepressiva, Antipsychotika oder Substitutionspräparate wie Methadon. Eine ärztliche Begleitung ist daher zwingend notwendig (Stout & Cimino, 2014).
Grenzen der Evidenz
Die bisherige Forschung zu Cannabis in der Suchttherapie basiert überwiegend auf Beobachtungsstudien, Kohorten und Selbstberichten. Randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) mit großen Fallzahlen und längerer Nachbeobachtung fehlen bislang. Daher bleibt Cannabis in der Suchtmedizin vorerst eine experimentelle Ergänzung, die nur komplementär eingesetzt werden sollte (Marsh et al., 2021).
Für Patient:innen bedeutet das:
Cannabis kann in bestimmten Fällen eine hilfreiche Ergänzung sein, birgt aber eigene Risiken. Eine engmaschige ärztliche Begleitung, die Auswahl CBD-reicher oder ausgewogener Präparate sowie die Integration in ein multimodales Therapiekonzept sind entscheidend, um Nutzen und Risiken verantwortungsvoll auszubalancieren.
Integrative Ansätze & Modellprojekte
Multimodale Behandlungsstrukturen
Die moderne Suchtmedizin setzt nicht auf einzelne Medikamente, sondern auf integrierte Behandlungskonzepte. Diese kombinieren Psychotherapie, psychosoziale Betreuung, Substitutionstherapien (z. B. Methadon oder Buprenorphin) sowie pharmakologische Optionen.
Medizinisches Cannabis kann in solchen Programmen als ergänzendes Modul wirken – etwa zur Linderung von Entzugssymptomen, zur Verbesserung des Schlafs oder zur Reduktion von Craving. Wichtig ist: Cannabis darf nicht isoliert eingesetzt werden, sondern ausschließlich als Ergänzung zu etablierten Verfahren.
Die bisherige Evidenz basiert jedoch überwiegend auf Beobachtungsstudien und Befragungen. Randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) mit großen Patientenzahlen fehlen bislang.
Internationale Modellprojekte
Einige Länder haben Cannabis bereits gezielt in suchtmedizinische Strukturen integriert:
Kanada: Befragungen zeigen, dass viele Patient:innen Cannabis zur Substitution von Opioiden nutzen und dabei von einer verbesserten Lebensqualität berichten (Lucas & Walsh, 2017).
USA: In Bundesstaaten mit Medizinalcannabisgesetzen wurden niedrigere Raten tödlicher Opioid-Überdosierungen dokumentiert. Diese Daten sind ökologisch und erlauben keine direkten Kausalzusammenhänge, zeigen aber relevante Trends (Bachhuber et al., 2014).
Leitlinien & Empfehlungen
Internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) betonen, dass neue pharmakologische Ansätze ausschließlich im Rahmen evidenzbasierter, multimodaler Behandlungskonzepte eingesetzt werden sollten.
Cannabis wird in den internationalen Leitlinien bislang nicht ausdrücklich empfohlen, doch die Bedeutung komplementärer und unterstützender Verfahren wird hervorgehoben – insbesondere, wenn sie in ein strukturiertes, ärztlich überwachtes Gesamtprogramm integriert sind. Ziel ist stets, biologische, psychologische und soziale Faktoren gleichermaßen zu adressieren und Rückfälle durch ganzheitliche Therapieansätze zu minimieren (UNODC & WHO, 2020. International Standards for the Treatment of Drug Use Disorders.).