Das Glaukom – im Volksmund auch „grüner Star“ genannt – ist eine der häufigsten Ursachen für irreversible Erblindung weltweit. Schätzungen zufolge sind weltweit über 70 Millionen Menschen betroffen, bei etwa 10 % kommt es trotz Therapie zu schwerwiegenden Sehnervschäden. Die Erkrankung verläuft oft schleichend und bleibt lange symptomlos, bis sich Gesichtsfeldausfälle und Sehverschlechterung bemerkbar machen.
Therapeutisches Ziel ist in allen Fällen eine Senkung des Augeninnendrucks (intraokularer Druck, IOD), um die empfindlichen retinalen Ganglienzellen und den Sehnervkopf (Papille) vor dauerhafter Schädigung zu schützen.
Bereits in den 1970er Jahren wurde in den USA beobachtet, dass THC-haltiger Cannabis eine IOD-senkende Wirkung entfalten kann – insbesondere bei inhalativer Anwendung. Dies weckte das Interesse an Cannabinoiden als potenzielle Glaukomtherapie. Doch was ist aus diesem Ansatz geworden? Haben Cannabis oder Cannabinoid-Medikamente heute noch eine relevante Rolle in der Glaukombehandlung – oder wurden sie längst von moderneren Optionen überholt?
Diese Fragen beantwortet der folgende Beitrag – mit einem Fokus auf:
- die pathophysiologischen Grundlagen des Glaukoms,
- die Studienlage zur IOD-Senkung durch Cannabinoide,
- sowie das neuroprotektive Potenzial jenseits des Augeninnendrucks.
Wir starten mit einem Überblick über die Erkrankung selbst und ihre zentrale Zielgröße: den Augeninnendruck.
1. Pathophysiologie des Glaukoms – Warum ist der Augeninnendruck so wichtig?
Das Glaukom ist keine einheitliche Erkrankung, sondern bezeichnet eine Gruppe von neuropathischen Erkrankungen des Sehnervs, die typischerweise mit einem erhöhten Augeninnendruck (IOD) einhergehen – allerdings nicht zwingend. Die häufigsten Formen sind:
- Primäres Offenwinkelglaukom: Der Kammerwasserabfluss im Trabekelmaschenwerk ist gestört, obwohl der Kammerwinkel anatomisch offen ist. Dies ist die häufigste Form weltweit.
- Engwinkel- oder Winkelblockglaukom: Der Kammerwinkel ist anatomisch verengt oder blockiert, sodass das Kammerwasser nicht richtig abfließen kann. Hier kann es zu akuten Druckspitzen kommen – ein augenärztlicher Notfall.
Warum ist der IOD so bedeutsam?
Der Augeninnendruck entsteht durch das Gleichgewicht zwischen Produktion und Abfluss des Kammerwassers, einer klaren Flüssigkeit, die vom Ziliarkörper produziert wird. Bei gestörtem Abfluss steigt der Druck – und dieser überträgt sich direkt auf den Sehnervenkopf (Papille). Die empfindlichen Ganglienzellen der Retina leiden unter der chronischen Druckbelastung, was zu einer progressiven Atrophie des Sehnervs führt.
Die Folgen sind schleichende Gesichtsfeldausfälle, die anfangs kaum bemerkt werden, im Verlauf aber zur Tunnelblick-Symptomatik und schließlich zur Erblindung führen können. Besonders tückisch: Der einmal zerstörte Sehnerv lässt sich nicht regenerieren.
Daher ist die Drucksenkung die zentrale therapeutische Maßnahme – ob medikamentös, laserbasiert oder chirurgisch. Bereits kleine Reduktionen des IOD um 1–2 mmHg können das Fortschreiten der Erkrankung signifikant verzögern, wie große Studien (z. B. Ocular Hypertension Treatment Study, Early Manifest Glaucoma Trial) gezeigt haben.
2. Cannabinoide und Augeninnendruck – Was sagt die Forschung?
Das Interesse an Cannabis als IOD-senkender Wirkstoff reicht bis in die 1970er-Jahre zurück. Erste klinische Beobachtungen zeigten, dass der inhalative Konsum von THC den Augeninnendruck signifikant senken kann – teils um 25–30 % gegenüber dem Ausgangswert [1]. Diese Wirkung ist inzwischen durch mehrere kleine Studien bestätigt worden, u. a. bei Patient:innen mit Offenwinkelglaukom [2].
Wie wirken Cannabinoide im Auge?
Die zentralen Effekte lassen sich auf die Aktivierung des CB1-Rezeptors zurückführen, der in relevanten okulären Strukturen nachgewiesen wurde, insbesondere:
- im Ziliarkörper (dort wird das Kammerwasser produziert),
- in den Trabekelstrukturen (für den Abfluss verantwortlich),
- sowie in der Retina und am Sehnervenkopf [3].
Die CB1-Aktivierung durch THC führt zu:
- Reduktion der Kammerwasserproduktion, vermutlich über Hemmung der Adenylatzyklase und Modulation von Kalziumkanälen,
- veränderter Abflussdynamik, wobei hier die Datenlage weniger eindeutig ist.
Bei CBD hingegen sind die Effekte unklarer: Einzelne präklinische Studien berichten sogar von einem leichten Anstieg des IOD, wenn CBD isoliert angewendet wird [4]. Kombinationspräparate mit einem ausgewogenen Verhältnis von THC und CBD scheinen hingegen stabilisierend zu wirken.
Wie schlägt sich Cannabis im Vergleich zu klassischen Medikamenten?
Verglichen mit etablierten Antiglaukomatosa wie Prostaglandinanaloga (z. B. Latanoprost), Beta-Blockern (z. B. Timolol) oder Carboanhydrasehemmern (z. B. Dorzolamid) ist der Nutzen von Cannabis limitiert:
- Die IOD-Senkung durch inhalatives THC tritt zwar rasch ein, hält aber nur 3–4 Stunden an [5].
- Das bedeutet: mehrmals täglicher Konsum wäre notwendig – mit entsprechend hohen systemischen Belastungen.
- Zudem wirken herkömmliche Medikamente meist gezielter, länger und mit geringeren zentralnervösen Nebenwirkungen.
Unterm Strich bleibt festzuhalten: Die kurzfristige Drucksenkung durch THC ist pharmakologisch plausibel und experimentell belegt – reicht jedoch in der praktischen Glaukomtherapie nicht an moderne Medikamente heran.
Möchtest du mit Abschnitt 3 („Limitierungen des therapeutischen Nutzens“) fortfahren?
3. Limitierungen des therapeutischen Nutzens
Trotz der in Studien bestätigten IOD-senkenden Wirkung von THC stößt die therapeutische Anwendung in der Glaukombehandlung schnell an ihre praktischen und medizinischen Grenzen.
Kurze Wirkungsdauer – hoher Applikationsbedarf
Die Wirkdauer von inhalativem THC beträgt meist nur 3 bis 4 Stunden. Um eine kontinuierliche Drucksenkung – wie sie zur Glaukomprophylaxe nötig wäre – zu gewährleisten, müsste der Wirkstoff mehrmals täglich konsumiert werden. Dies ist nicht nur unpraktisch, sondern führt auch zu:
- starker systemischer Belastung,
- potenzieller Toleranzentwicklung,
- und kognitiven sowie kardiovaskulären Nebenwirkungen wie Sedierung, Hypotonie oder Tachykardie [6].
Topische Applikation bisher nicht ausreichend wirksam
Die Hoffnung, Cannabinoide als Augentropfen oder Salbe lokal zu applizieren, erfüllt sich bislang nicht:
- Aufgrund der lipophilen Struktur von THC und CBD ist die Penetration durch die Hornhaut gering.
- Die resultierende intraokulare Wirkstoffkonzentration ist zu niedrig, um eine signifikante Drucksenkung zu erzielen [7].
Ansätze mit Nanocarriern oder liposomalen Trägersystemen befinden sich in der präklinischen Erprobung – zugelassene Präparate existieren derzeit jedoch nicht.
Unerwünschte Effekte und Kontraindikationen
Gerade bei älteren Patient:innen mit Glaukom sind THC-bedingte Nebenwirkungen klinisch relevant:
- Beeinträchtigung der Vigilanz,
- Schwindel,
- Beeinträchtigung kognitiver Leistungen oder
- kardiovaskuläre Symptome bei gleichzeitiger Einnahme antihypertensiver Medikamente.
Auch psychische Komorbiditäten wie Angststörungen oder kognitive Einschränkungen stellen mögliche Kontraindikationen dar.
Kein Platz in den aktuellen Leitlinien
Wegen der unzureichenden Bioverfügbarkeit, der kurzen Wirkdauer und des Nebenwirkungsprofils wird Cannabis in keiner internationalen Leitlinie als Therapieoption für das Glaukom empfohlen.
Die American Academy of Ophthalmology (AAO) und das National Eye Institute (NEI) sprechen sich ausdrücklich gegen den Einsatz von Cannabinoiden zur Senkung des Augeninnendrucks aus – solange wirksamere und sicherere Therapien zur Verfügung stehen [8].
4. Neuroprotektion durch Cannabinoide – Potenzial jenseits des IOD
Auch wenn die augendrucksenkende Wirkung von Cannabinoiden aus klinischer Sicht nur begrenzt nutzbar ist, rückt zunehmend ein anderer Aspekt in den Fokus der Forschung: die potenziell neuroprotektiven Eigenschaften von THC und CBD.
Schutz retinaler Ganglienzellen
Das Glaukom ist nicht nur eine Erkrankung des erhöhten Augeninnendrucks, sondern führt langfristig zur Degeneration der retinalen Ganglienzellen (RGCs) – also jener Nervenzellen, die visuelle Informationen vom Auge ins Gehirn weiterleiten.
In präklinischen Studien zeigten Cannabinoide wie THC und CBD:
- antioxidative Effekte,
- Hemmung von Glutamat-induzierter Exzitotoxizität,
- Reduktion neuroinflammatorischer Prozesse [9][10].
Diese Mechanismen könnten theoretisch helfen, den Verlust an Nervenzellen zu verlangsamen, auch wenn der Augeninnendruck nur unzureichend gesenkt wird.
CB1- und CB2-Rezeptoren im visuellen System
CB1-Rezeptoren sind in der retinalen Ganglienzellschicht, dem Sehnerv und visuellen Kortex nachweisbar. Die Aktivierung dieser Rezeptoren scheint in Tiermodellen die Überlebensrate von Ganglienzellen nach ischämischem oder glaukomatösem Stress zu erhöhen [11].
CB2-Rezeptoren, obwohl weniger stark exprimiert, modulieren Entzündungsprozesse und Mikroglia-Aktivierung, die mit dem Fortschreiten der Glaukomneuropathie assoziiert sind.
Mangel an klinischer Evidenz
Trotz vielversprechender tierexperimenteller Daten bleibt die Frage offen, ob sich diese neuroprotektiven Effekte auch beim Menschen nachweisen lassen.
- Es existieren keine randomisiert-kontrollierten Studien, die eine neuroprotektive Wirkung von Cannabinoiden beim Glaukom eindeutig belegen.
- Klinische Studien beschränken sich meist auf kurzfristige Effekte auf den Augeninnendruck – nicht auf den langfristigen Verlauf der Sehnervschädigung.
Ein weiteres Problem: Neuroprotektion lässt sich beim Menschen kaum direkt messen – weder durch einfache Druckwerte noch durch subjektive Sehleistung.
Fazit zum neuroprotektiven Potenzial
Die Idee, Cannabinoide beim Glaukom nicht primär als Drucksenker, sondern als neuroprotektives Add-on einzusetzen, ist biologisch plausibel, aber derzeit noch spekulativ.
Bis belastbare Humanstudien vorliegen, bleibt dieser Einsatzbereich außerhalb evidenzbasierter Therapiepfade.
5. Forschungsstand & regulatorische Einordnung
Trotz der langjährigen wissenschaftlichen Diskussion zur Cannabiswirkung beim Glaukom bleibt die klinische Evidenzlage schwach – und dies hat direkte Auswirkungen auf die medizinische Bewertung und rechtliche Zulassung.
Studienlage: Methodisch begrenzt und uneinheitlich
Die Mehrheit der Studien, die Cannabinoide beim Glaukom untersuchen, stammt aus den 1970er- bis 1990er-Jahren – mit teils kleinen Fallzahlen, uneinheitlichen Dosierungen und mangelnder Standardisierung. Neuere klinische Studien sind rar.
Beobachtete Limitationen sind u. a.:
- Kurze Studiendauer (oft nur Stunden bis wenige Tage),
- fehlende Vergleichsgruppen oder Placebokontrollen,
- unterschiedliche Applikationsformen (inhalativ, oral, topisch) ohne direkte Vergleichbarkeit.
Eine systematische Metaanalyse aus 2020 kommt zu dem Schluss, dass Cannabis den IOD vorübergehend senken kann, dies aber nicht die Anforderungen an eine therapeutisch sinnvolle Langzeitbehandlung erfüllt [12].
Keine Leitlinienempfehlung
Weder nationale noch internationale Fachgesellschaften (z. B. DOG, EGS) empfehlen aktuell den Einsatz von Cannabispräparaten zur Behandlung des Glaukoms. Die Leitlinien stützen sich auf gut untersuchte Substanzklassen wie:
- Prostaglandinanaloga,
- Beta-Blocker,
- Alpha-Agonisten,
Cannabinoide gelten höchstens als experimentelle oder ergänzende Maßnahme – bei individuellen Therapieversuchen unter sorgfältiger ärztlicher Überwachung.
Rechtliche Einordnung: Ausnahme, nicht Regel
In Deutschland ist die Verordnung von Medizin aus der Cannabis Apotheke bei Glaukom grundsätzlich möglich, allerdings nur bei:
- Therapieresistenz gegenüber etablierten Mitteln,
- und hinreichender Aussicht auf Linderung (§ 31 SGB V).
Die evidenzbasierte Einschätzung der Krankenkassen führt jedoch oft zu Ablehnungen im Genehmigungsverfahren, sofern nicht eine außergewöhnliche klinische Situation nachgewiesen wird.
Forschung: Bedarf an modernen Studien
Zukünftige Studien sollten folgende Aspekte berücksichtigen:
- Langfristige Effekte auf Sehnerv und Gesichtsfeld,
- Vergleich zwischen THC-reichen, CBD-dominanten und Vollspektrumpräparaten,
- topische Formulierungen mit verbesserter okularer Bioverfügbarkeit,
- Kombinationstherapien mit etablierten Antiglaukomatosa.
Bis dahin bleibt Cannabis beim Glaukom ein wissenschaftlich interessantes, aber medizinisch nur begrenzt nutzbares Instrument.
Glaukom bleibt ein Grenzfall für Cannabis
Medizinisches Cannabis hat unbestreitbar eine kurzfristige drucksenkende Wirkung auf den Augeninnendruck – dieser Effekt ist bereits seit den 1970er-Jahren wissenschaftlich dokumentiert. Doch was damals als potenzielle Therapieoption galt, hat sich in der heutigen klinischen Praxis nicht durchgesetzt. Der Hauptgrund: Die Wirkung von THC hält nur wenige Stunden an, erfordert eine hohe Dosierungsfrequenz und geht mit systemischen Nebenwirkungen einher – darunter Müdigkeit, Kreislaufprobleme und psychotrope Effekte.
Zudem ist die Bioverfügbarkeit am Auge gering, insbesondere bei oraler oder topischer Anwendung. Versuche, diese Problematik durch spezielle Darreichungsformen zu lösen, sind bislang nicht über das experimentelle Stadium hinausgekommen.
Auch wenn es Hinweise auf neuroprotektive Eigenschaften von THC und CBD gibt – etwa auf retinalen Ganglienzellen – fehlt der wissenschaftliche Beleg in Form kontrollierter, langfristiger Studien am Menschen. Damit bleibt das mögliche Schutzpotenzial auf neuroinflammatorischer Ebene eine theoretische Option, keine fundierte therapeutische Empfehlung.
Für Patient:innen mit Glaukom bedeutet das:
- Cannabis ersetzt keine Standardtherapie, sondern kann allenfalls in Einzelfällen ergänzend erwogen werden.
- Die Anwendung sollte streng überwacht und individuell dosiert erfolgen – insbesondere bei vorbestehenden kardiovaskulären oder psychischen Risiken.
- Die Erstattungsfähigkeit durch Krankenkassen ist nur im Ausnahmefall gegeben, meist bei dokumentierter Therapieresistenz.
Verwendete Quellen:
[1] Hepler RS, Frank IR (1971). Marihuana smoking and intraocular pressure. JAMA, 217(10):1392–1397.
[2] Merritt JC et al. (1980). Effect of marihuana on intraocular and blood pressure in glaucoma. Ophthalmology, 87(3):222–228.
[3] Straiker A et al. (1999). Cannabinoid CB1 receptors and ligands in vertebrate retina: localization and function. Visual Neuroscience, 16(3):585–595.
[4] Miller S et al. (2018). Δ9-THC and CBD Affect Intraocular Pressure Differently in Male and Female Mice. Investigative Ophthalmology & Visual Science, 59(15):5904–5911.
[5] Tomida I et al. (2004). Effect of sublingual cannabis-based medicine on intraocular pressure: a pilot study. J Glaucoma, 13(6):435–438.
[6] Whiting PF et al. (2015). Cannabinoids for Medical Use: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA, 313(24):2456–2473.
[7] Jayarajan V et al. (2020). Challenges and advances in topical delivery of cannabinoids for ocular disorders. Pharmaceutics, 12(6):512.
[8] American Academy of Ophthalmology (2019). Marijuana and Glaucoma: The Evidence Lags Behind the Hype. AAO.org.
[9] Nucci C et al. (2004). Involvement of the endocannabinoid system in retinal damage after high intraocular pressure-induced ischemia in rats. Invest Ophthalmol Vis Sci, 45(5): 1531–1538.
[10] El-Remessy AB et al. (2003). Neuroprotective effects of cannabidiol in endotoxin-induced uveitis: critical role of p38 MAPK activation. J Neurochem, 87(1): 155–168.
[11] Yazulla S (2008). Endocannabinoids in the retina: from marijuana to neuroprotection. Prog Retin Eye Res, 27(5): 501–526.
[12] Whiting PF et al. (2020). Cannabinoids for Medical Use: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA, 313(24): 2456–2473.