In der modernen Cannabismedizin ist häufig vom sogenannten Entourage-Effekt die Rede. Gemeint ist die Annahme, dass die Gesamtheit aller Inhaltsstoffe der Cannabispflanze – also Cannabinoide, Terpene und weitere pflanzliche Begleitstoffe – synergetisch zusammenwirkt. Doch wie fundiert ist dieses Konzept wissenschaftlich? Und was bedeutet das konkret für Patient:innen, die zwischen Extrakten, Reinsubstanzen oder Blüten wählen?
Was versteht man unter dem Entourage-Effekt?
Der Begriff wurde 1998 von dem israelischen Wissenschaftler Raphael Mechoulam geprägt. In einer Studie wies sein Team nach, dass bestimmte inaktive Fettsäuren die Wirkung von Anandamid – einem körpereigenen Cannabinoid – verstärken konnten. Ursprünglich bezog sich der Begriff nicht auf Cannabis insgesamt, sondern auf endogene Begleitstoffe des Endocannabinoid-Systems. Diese Wechselwirkungen wurden später auf die Inhaltsstoffe der Cannabispflanze übertragen [1].
Die Grundidee:
Nicht allein THC oder CBD sind für die Wirkung verantwortlich – erst das Zusammenspiel mit anderen pflanzlichen Komponenten wie Terpenen oder Flavonoiden entfaltet das volle therapeutische Potenzial.
Wie wirken Terpene im Zusammenspiel mit Cannabinoiden?
Terpene wie Limonen, β-Myrcen oder Caryophyllen kommen in der Cannabispflanze in hoher Konzentration vor und sind nicht nur für den Geruch verantwortlich – sie besitzen eigene pharmakologische Effekte, etwa:
- Limonen: stimmungsaufhellend, anxiolytisch
- β-Myrcen: muskelentspannend, sedierend
- β-Caryophyllen: entzündungshemmend, über CB2-Rezeptor aktiv [2]
Studien legen nahe, dass diese Stoffe die Wirkung von THC/CBD modulieren, etwa durch:
- Verstärkung beruhigender oder angstlösender Effekte
- Veränderung der Blut-Hirn-Schranken-Passage
- Verkürzung der Wirkverzögerung bei inhalativer Gabe
Gibt es wissenschaftliche Belege für den Entourage-Effekt?
Die Datenlage ist gemischt:
- Tiermodelle und In-vitro-Versuche zeigen, dass bestimmte Terpenkombinationen die Cannabinoidwirkung verändern können – etwa in Richtung Schmerzlinderung oder Krampfschutz [3].
- Eine Studie von Gallily et al. (2015) zeigte, dass ein THC-reiches Vollspektrumextrakt bei Mäusen eine bessere Entzündungshemmung bewirkte als reines THC [4].
- Humanstudien sind bislang selten und oft methodisch limitiert. Eine placebokontrollierte Studie zu CBD bei Epilepsie (Devinsky et al., 2017) verwendete ein reines CBD-Präparat (Epidyolex) – mit eindeutigem Effekt. Der Entourage-Effekt wurde hier nicht benötigt, um eine Wirkung zu erzielen [5].
Fazit der aktuellen Fachliteratur: Es gibt Hinweise, aber (noch) keine robusten Humanbelege für eine generelle Überlegenheit von Vollspektrumpräparaten gegenüber Reinsubstanzen.
Welche Rolle spielt das in der Praxis?
Für viele Patient:innen können Cannabisprodukte wie Blüten oder Extrakte klinisch sinnvoll sein – vor allem wenn:
- mehrere Symptome gleichzeitig behandelt werden sollen (z. B. Schmerz + Schlafstörung)
- geringe Dosen eine stärkere Wirkung zeigen als erwartet
- bei Monopräparaten keine ausreichende Wirkung eintritt
Reinsubstanzen wie Dronabinol (synthetisches THC) oder Isolat-CBD sind hingegen besser geeignet, wenn eine exakte Dosierbarkeit oder therapeutische Standardisierung erforderlich ist.
Wissenschaftliche Relevanz
Der Entourage-Effekt ist ein plausibles Konzept mit wachsender wissenschaftlicher Relevanz – vor allem im Hinblick auf die komplexe Zusammensetzung der Cannabispflanze. Auch wenn die klinische Evidenz bislang begrenzt ist, spricht vieles dafür, dass Cannabis mehr ist als die Summe seiner Teile. In der medizinischen Anwendung kommt es dabei stets auf die individuelle Situation, den Anwendungsbereich und die ärztliche Begleitung an.
Literatur
[1] Ben-Shabat S et al. (1998): An entourage effect: inactive endogenous fatty acid glycerol esters enhance 2-arachidonoyl-glycerol cannabinoid activity. Eur J Pharmacol. 353(1):23–31.
[2] Russo EB (2011): Taming THC: potential cannabis synergy and phytocannabinoid-terpenoid entourage effects. Br J Pharmacol. 163(7):1344–64.
[3] Nuutinen T (2018): Medicinal properties of terpenes found in Cannabis sativa and Humulus lupulus. Eur J Med Chem. 157:198–228.
[4] Gallily R et al. (2015): Overcoming the bell-shaped dose-response of cannabidiol by using Cannabis extract enriched in cannabidiol. Pharmacol Pharm. 6(2):75–85.
[5] Devinsky O et al. (2017): Trial of Cannabidiol for Drug-Resistant Seizures in the Dravet Syndrome. N Engl J Med 376:2011–2020.