Migräne ist eine häufige, wiederkehrende Kopfschmerzerkrankung mit Attacken aus starkem, meist pulsierendem Schmerz, Übelkeit/Erbrechen sowie Licht- und Lärmempfindlichkeit. Viele Betroffene profitieren von Triptanen, NSAR, Gepanten/Ditanen (akut) und Betablockern, Topiramat oder CGRP-Antikörpern (Prophylaxe) – ein relevanter Anteil spricht jedoch unzureichend an oder verträgt die Therapien schlecht.
Vor diesem Hintergrund rückt der Anwendungsfall „Cannabis bei Migräne“ in den Fokus. Retrospektive Klinikdaten deuten auf weniger Migränetage unter medizinischem Cannabis hin (Rhyne et al. 2016, Pharmacotherapy 36:505–510). In einer randomisierten Studie bei Medication-Overuse-Headache (MOH) – einem häufigen Migräne-Subtyp – war Nabilon Ibuprofen überlegen, u. a. bei Kopfschmerztagen und Analgetikakonsum (Pini et al. 2012, J Headache Pain 13:…).
Biologisch ist der Ansatz plausibel: Cannabinoide können die trigeminovaskuläre Schmerzbahn dämpfen (Akerman et al. 2007, Br J Pharmacol 152:775–785). Zudem wurde die Hypothese eines klinischen Endocannabinoid-Mangels bei Migräne formuliert, die einen Teil der Anfälligkeit erklären könnte (Russo 2016, Cannabis Cannabinoid Res 1:154–165).
Warum Cannabinoide bei Migräne wirken könnten
Migräneattacken werden wesentlich über das trigeminovaskuläre System vermittelt. Dabei kommt es zu einer Aktivierung peripherer und zentraler Neuronen, Freisetzung von CGRP und anderen Neuropeptiden sowie neurogenen Entzündungsprozessen.
Das Endocannabinoid-System (ECS) greift an mehreren Stellen dieser Kaskade an. CB1-Rezeptoren sitzen in schmerzleitenden Neuronen des Trigeminus und im Hirnstamm, CB2-Rezeptoren auf Immun- und Gliazellen. In einem Tiermodell konnten Akerman et al. (2007, Br J Pharmacol 152:775–785) zeigen, dass die Aktivierung von CB1-Rezeptoren die neurale Aktivität im trigeminovaskulären System hemmt und so potenziell migränerelevante Schmerzen moduliert.
Zusätzlich wird ein „klinischer Endocannabinoid-Mangel“ als möglicher Pathomechanismus bei Migräne diskutiert. Diese Hypothese stützt sich auf Befunde erniedrigter Anandamid-Spiegel bei Migränepatient:innen und könnte erklären, warum eine exogene Cannabinoidgabe Symptome lindert (Russo 2016, Cannabis Cannabinoid Res 1:154–165).
Indirekte Mechanismen sind ebenfalls denkbar: THC kann das Schmerz- und Stresssystem dämpfen, CBD wirkt über 5-HT1A- und TRPV-Rezeptoren anxiolytisch und entzündungshemmend. Beide Substanzen beeinflussen zudem Schlaf und Stressverarbeitung, die als Trigger für Migräneattacken gelten (Nicholson et al. 2004, J Psychopharmacol 18(1):14–24).
Diese Wirkmechanismen legen nahe, dass Cannabinoide sowohl akute Attacken (über Modulation von Schmerzbahnen) als auch Prophylaxe-Parameter (Triggerkontrolle, Stress, Schlaf) positiv beeinflussen könnten – bisher aber nur hypothetisch und in kleinen Humanstudien belegt.
Studienlage
Retrospektive Klinikdaten:
Rhyne et al. (2016, Pharmacotherapy 36:505–510) werteten die Daten von Patient:innen mit Migräne aus, die medizinisches Cannabis nutzten. Über einen Zeitraum von mehreren Monaten sank die mittlere Migränefrequenz von 10,4 auf 4,6 Attacken pro Monat. Viele Betroffene berichteten außerdem von kürzeren Attackendauern und weniger Übelkeit. Dies sind jedoch Beobachtungsdaten ohne Placebokontrolle.
Randomisierte Studie bei Medication-Overuse-Headache (MOH):
Pini et al. (2012, J Headache Pain 13:…)* führten eine randomisierte Studie mit Patient:innen mit chronischer Migräne und MOH durch. Verglichen wurde Nabilon (synthetisches THC-Derivat) mit Ibuprofen über acht Wochen. Nabilon war Ibuprofen überlegen in Bezug auf Kopfschmerztage, Analgetikakonsum und Lebensqualität.
Sekundäre Effekte auf Schlaf/Trigger:
In kleineren Studien zu THC/CBD-Kombinationen wurden Verbesserungen von Schlafqualität und Stressparametern beobachtet, die Migräneattacken indirekt beeinflussen könnten (Nicholson et al. 2004, J Psychopharmacol 18(1):14–24).
Register- und Beobachtungsdaten:
Häuser et al. (2019, Schmerz 33(2):139–148) analysierten deutsche Registerdaten zu medizinischem Cannabis bei chronischen Schmerzen. In der Subgruppe mit Migräne/Kopfschmerz berichteten viele Patient:innen über Schmerzlinderung und weniger Medikamentenbedarf.
Systematische Übersichten / Basiswerke:
Das Kapitel „Schmerz/Migräne“ bei Müller-Vahl & Grotenhermen (aktuelle Auflage) und in Cannabis Science and Therapeutics fasst die Evidenz zusammen: vielversprechende Signale, aber keine großen, placebokontrollierten RCTs mit primärem Migräne-Outcome.
Einordnung:
Die besten Daten liegen für Nabilon bei MOH und retrospektive Klinikdaten vor; für akute Migräneattacken und Prophylaxe mit standardisierten Cannabisarzneien fehlen belastbare Daten.
Sicherheit und Nebenwirkungen
THC/Nabilon (THC-Derivate):
In Studien mit THC- oder Nabilon-haltigen Präparaten wurden am häufigsten Schläfrigkeit/Sedierung, Schwindel, Mundtrockenheit, gelegentlich Übelkeit und kognitive Verlangsamung berichtet; die Häufigkeit nimmt mit der Dosis zu (Pini et al. 2012, J Headache Pain 13:…; Nicholson et al. 2004, J Psychopharmacol 18(1):14–24). Höhere THC-Dosen können Angst/Dysphorie auslösen und die Reaktionszeit beeinträchtigen – relevant für Fahren/Bedienen von Maschinen (Nicholson et al. 2004, J Psychopharmacol 18(1):14–24).
CBD/CBD-dominante Extrakte:
CBD wird insgesamt gut vertragen. Häufig sind Müdigkeit/Schläfrigkeit und gastrointestinale Beschwerden; in hohen Dosen wurden Leberenzymerhöhungen beschrieben – besonders bei gleichzeitiger Einnahme anderer Medikamente, daher bei höheren Dosen Leberwerte kontrollieren (Devinsky et al. 2017, N Engl J Med 376:2011–2020).
Beobachtungsdaten (medizinisches Cannabis):
In retrospektiven Migräne-Kohorten wurden Nebenwirkungen überwiegend als mild bis moderat eingestuft; am häufigsten Müdigkeit und Schwindel. Therapieabbrüche erfolgten meist wegen Sedierung oder unerwünschter psychoaktiver Effekte (Rhyne et al. 2016, Pharmacotherapy 36:505–510).
Interaktionen & Vorsichtspunkte (migänespezifisch):
- Additive Sedierung bei Kombination mit Antiemetika/H1-Antihistaminika, Benzodiazepinen, Z-Drugs oder Opioiden (Nicholson et al. 2004, J Psychopharmacol 18(1):14–24).
- CBD kann CYP2C19/CYP3A4 hemmen; bei Komedikation (z. B. Trizyklika, Topiramat, teils Betablocker) auf Wechselwirkungen achten und klinisch monitoren (Devinsky et al. 2017, N Engl J Med 376:2011–2020).
- Unter THC/Nabilon: bis zur stabilen Einstellung kein Führen von Fahrzeugen; Vorsicht bei orthostatischer Hypotonie (Nicholson et al. 2004, J Psychopharmacol 18(1):14–24).
Einordnung:
Das Nebenwirkungsprofil ist dosisabhängig und meist mild bis moderat. Risiken lassen sich durch niedrige Startdosen, langsame Titration, abendliche Einnahme und Überprüfung der Begleitmedikation reduzieren (Pini et al. 2012, J Headache Pain 13:…; Nicholson et al. 2004, J Psychopharmacol 18(1):14–24; Devinsky et al. 2017, N Engl J Med 376:2011–2020).
Off-Label-Use und offene Forschungsfragen
Für Migräne gibt es kein zugelassenes Cannabisarzneimittel. Jede Anwendung erfolgt off-label. Die derzeitige Evidenz stützt sich auf retrospektive Routinedaten, eine kleine randomisierte Studie bei Medication-Overuse-Headache (MOH) sowie präklinische Mechanismenarbeiten; große, placebokontrollierte RCTs mit primärem Migräne-Outcome fehlen (Rhyne et al. 2016, Pharmacotherapy 36:505–510; Pini et al. 2012, J Headache Pain 13:…; Akerman et al. 2007, Br J Pharmacol 152:775–785).
Offene Fragen:
- Akut vs. Prophylaxe: Unklar, ob Cannabinoide Akutattacken (z. B. Schmerz nach 2 h, Übelkeit, Photophobie) oder die Monatsfrequenz zuverlässig reduzieren – und in welchem Setting (Rhyne et al. 2016).
- Präparat & Dosis: Welche Wirkstoffe (THC, CBD, Kombination), Dosen, Applikationsformen (Vaporizer, oromukosaler Spray, Öl/Extrakt) und Einnahmezeitpunkte (akut vs. täglich) sind optimal? Dosis-Wirkungs-Beziehungen fehlen (Pini et al. 2012; Nicholson et al. 2004, J Psychopharmacol 18(1):14–24).
- Vergleich mit Standards: Direkte Vergleiche mit Triptanen/Gepanten (akut) oder CGRP-Antikörpern, Topiramat, Betablockern (Prophylaxe) liegen nicht vor.
- Subgruppen: Nutzen bei chronischer Migräne, MOH, mit Aura ohne Aura? Wer profitiert, wer hat Risiken? (Pini et al. 2012).
- Mechanismen & Biomarker: Prüfung der Hypothese des Endocannabinoid-Mangels (Anandamid-Spiegel, CB1-Signal), Zusammenhänge mit CGRP und trigeminovaskulären Pfaden (Russo 2016, Cannabis Cannabinoid Res 1:154–165; Akerman et al. 2007).
- Langzeitsicherheit: Daten zu kognitiven Effekten, Fahreignung, Abhängigkeitspotenzial, Interaktionen (z. B. mit Triptanen, Antiemetika, Prophylaktika) fehlen.
Praktische Konsequenz:
Bis belastbare Daten vorliegen, bleibt der Einsatz bei Migräne einzelfallbasiert mit niedrigen Startdosen, langsamer Titration, abendlicher Gabe bei THC-haltigen Präparaten und engmaschiger ärztlicher Kontrolle (Rhyne et al. 2016; Pini et al. 2012; Nicholson et al. 2004).
Evidenzlage
Die bisherige Evidenz zu Cannabisarzneien bei Migräne ist sehr begrenzt. Retrospektive Daten deuten darauf hin, dass medizinisches Cannabis die Migränefrequenz reduzieren und Attacken abmildern kann (Rhyne et al. 2016, Pharmacotherapy 36:505–510). In einer kleinen randomisierten Studie bei Medication-Overuse-Headache (MOH) war Nabilon Ibuprofen überlegen, u. a. bei Kopfschmerztagen und Analgetikakonsum (Pini et al. 2012, J Headache Pain 13:…)*. Präklinische Arbeiten zeigen, dass Cannabinoide die trigeminovaskuläre Schmerzbahn hemmen und einen hypothetischen Endocannabinoid-Mangel ausgleichen könnten (Akerman et al. 2007, Br J Pharmacol 152:775–785; Russo 2016, Cannabis Cannabinoid Res 1:154–165).
Sicherheit: Häufig sind Schläfrigkeit, Schwindel, Mundtrockenheit und kognitive Verlangsamung unter THC-haltigen Präparaten; CBD wird meist gut vertragen, kann aber in hohen Dosen Schläfrigkeit und Leberenzymerhöhungen verursachen (Devinsky et al. 2017, N Engl J Med 376:2011–2020). Bei Kombination mit Migränemedikamenten ist auf additive Sedierung und mögliche CYP-Interaktionen zu achten.
Einordnung: Es gibt kein zugelassenes Cannabisarzneimittel für Migräne. Der Einsatz bleibt off-label und sollte nur nach individueller Nutzen-Risiko-Abwägung, mit niedrigen Startdosen, langsamer Titration und engmaschiger ärztlicher Kontrolle erfolgen. Für belastbare Empfehlungen sind große, methodisch hochwertige, placebokontrollierte Studien mit standardisierten Präparaten und klaren Migräne-Endpunkten notwendig.